Das Erbe der Hannah Arendt

Wissen
Mona Harfmann / 11.04.2017
Graffiti in Hannover lizenzfrei

 

Das Böse ist banal

Bezeichnungen hin oder her, einen neuen philosophischen Weg ebnete sie ohne Zweifel, in den Sechzigern machte sie die Bahn frei für eine neue Betrachtungsweise der verloren gegangenen Moral während des Zweiten Weltkriegs. Was war passiert, wieso war es passiert, und vor allem: Wie hatte es soweit kommen können? Die Benennung jenes etwas, das sie als verantwortlich für die die damals vorherrschende „staatlich vorgeschriebene Umschreibung der Werte“ verstand, löste einen medialen wie politischen Aufschrei aus: Das Banale Böse. Wie konnte sie, die Jüdin, es wagen, jenes Böse als banal zu bezeichnen? Wie konnte sie, die doch sonst so scharfsinnige Denkerin, die Taten des Obersturmbannführers Eichmann – verantwortlich für die Deportation von 6 Millionen Juden - nur derart verharmlosen? Familienmitglieder und FreundInnen wandten sich von ihr ab, ihr wurde mangelnde Liebe zum jüdischen Volk vorgeworfen und ihre brillante Rhetorik für Arroganz abgetan. Eichmann in Jerusalem hieß das Buch, das derart polarisierte und in welchem sie genau erklärt, warum das Böse nun wirklich banal ist. Und wer es gelesen hat, der weiß: Banalität steht hierbei nicht für Normalität oder gar Oberflächliches, sondern eine alltägliche Schwäche des Menschen, die sich in der Gedankenlosigkeit findet. Wer denkt, sich erinnert und reflektiert verwurzelt sich, schafft sich ein Konstrukt aus Verantwortungsbewusstsein, das einen immer auf dem Boden der Tatsachen hält. Laut Arendt stehen wir, die wir uns verwurzelt haben, in ständiger Korrespondenz mit unserem Ich, konversieren mit uns selbst über Gut und Böse – wir führen eine Unterredung mit unserem Gewissen.

 

Eichmann steckt in uns allen

Wie könne Gehorsam als Verbrechen gesehen werden in einer Zeit, in der es einem als Tugend eingetrichtert worden war? Eichmann verstand seine kleine, unreflektierte Welt nicht mehr. Hannah Arendt empfand diese Art des Bösen für viel schrecklicher und unheilvoller als jene, die einem in den tragischsten Antagonisten der Literatur jemals beschrieben worden war. Denn es bedeutete: Die wahre Verkörperung des Bösen ist ein Schreibtischtäter, ein Otto Adolf Eichmann, der doch nur die Befehle anderer ausübt und nicht einsieht, weshalb er dafür bestraft werden soll. Die wahre Verkörperung des Bösen sitzt ständig in Lauerstellung in uns, bereit, in kritischen Situationen zum Vorschein zu kommen.

Wie kam es, dass er, Eichmann, der laut eigenen Angaben nicht einmal überzeugter Antisemit gewesen war, nun hier vor dem Gerichtshof stand und sich für Taten verantworten musste, die er doch nicht einmal veranlasst, sondern bloß ausgeführt hatte? Befreite ihn dieser Umstand nicht von jeglicher Verantwortung?

Genau das ist der springende Punkt, und genau hier machen wir einen Zeitsprung in unsere heutige Gesellschaft: Nein, tut es nicht.

Das eigene Verantwortungsbewusstsein einer gründlichen Generalüberholung zu unterziehen, die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Verantwortung und dem Bewusstsein dafür verschwimmen zu lassen, das war Arendts Intention, heute genauso relevant wie zu ihren Lebzeiten. Je mehr es uns abgenommen wird, desto weniger erkennen wir es. Wir kaufen Fleisch in einem Supermarkt, das vermutlich das Produkt nicht artgerechter Tierhaltung ist, doch wer prüft das so genau? Unsere Aufgabe ist es nicht, also ist es auch nicht unsere Schuld. Obwohl die Regeln hierfür allen bekannt sein sollten, ist unser Verkehrssystem zugemauert mit Wartepflichtschildern, so dass, wenn dann einmal ein unangekündigter Rechtsvorrang aufscheint, Irritation aufkommt. Zu viel Vorgaben, mit deren Ursprung wir nicht mehr viel am Hut haben, ruinieren unsere Eigenständigkeit im Denken – eine Situation, die die Reformen, welche unser Schulsystem derzeit durchläuft, in einem kritischen Licht erscheinen lassen.

 

Und die Bilanz?

Niemand will Verantwortung haben, jeder wünscht sich ein sorgloses Dasein, also sucht auch jeder nach einem Verantwortung-Tragenden. Jemand, der Antworten auf Fragen weiß, der im Notfall dann seinen Kopf hinhält. Vielleicht liegt das im Menschen, vielleicht sind es die Ausnahmefälle, die freiwillig diese Regel bestätigen. Vermutlich sind das die Donald Trumps und H.C. Straches dieser Welt, die jenen, die müde sind von der ständigen Konversation mit ihrem Gewissen, als populär erscheinen. Denken kann anstrengend sein, denn eine Frage wirft die nächste auf und viele Antworten sind nicht zufriedenstellend, vor allem bei der Abrechnung mit sich selbst. Aber nicht umsonst nannte Arendt es Verwurzelung: Denn Denken macht uns aus. Bekanntlich unterscheidet es auch den Menschen vom Tier.

Was gilt es also zu tun? Sich darüber bewusst werden, dass die Schuld, das Böse, das wir alle verhindern können, im blinden Gehorsam steckt. Alles immer hinterfragen oder sich zumindest auf eine kurze Unterredung mit dem Gewissen einlassen. Niemand von uns wird sich jemals in der Situation befinden, keine Verantwortung zu besitzen. Und das ist gut so, denn irgendwie bedeutet das auch, dass wir wirkliche eine Rolle innehaben in unserer Gesellschaft – es liegt an uns, welche.

@jugendportal auf Instagram

Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

Partner