Der Wert einer Reise

Reisen
Hannah Dahl / 14.04.2021
Der Wert einer Reise

Priwjet, ich bin zurück! Mehr als ein Jahr ist es her, dass ich (mit viel Glück) nach meinem zweimonatigen Sprachaufenthalt in der sibirischen Stadt Krasnojarsk den letzten Flieger nach Wien erwischt habe, bevor die Grenzen aufgrund der drastisch eskallierenden Situation im Zusammenhang mit der globalen Pandemie geschlossen wurden. Gerade war ich noch im Unterricht gesessen, hatte mit meiner Gastschwester in der Schulkantine Tee getrunken und mit großäugigen russischen Kindergartenkindern Englisch gelernt — und schon saß ich im Flieger und beobachtete die Lichter der Stadt in den dichten sibirischen Wäldern verschwinden.

Obwohl ich mich seit meiner Ankunft in Österreich in diverse AktivistInnenszenen vertieft und neben zwei neuen Sprachen auch allerlei andere neue Dingen erlebt und gelernt habe, war und bleibt meine Erfahrung in Russland ein prägendes, einschneidendes Ereignis, das ich inzwischen verwende, um mein Leben in die Zeit davor und danach einzuteilen, der Ausgangspunkt für einen Prozess, der bis heute andauert.

Was passiert ist? Ich habe endlich begonnen, herauszufinden, wer ich bin.

Wer ich bin, was ich will, was ich kann, und wohin ich will. Nach einigen Jahren, in denen ich mich zunehmend als Außenseiterin gefühlt hatte, in der Schule abwechselnd unterfordert und gestresst gewesen war und verzweifelt versucht hatte, einer langjährigen Beziehung zu entfliehen, in der ich mich gefangen fühlte, war es die Befreiung.

„Das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, in dem mich niemand kannte, war unglaublich.“
- Hannah Dahl

Ich fühlte mich so frisch und rein wie ein unbeschriebenes Blatt, hatte endlich die Möglichkeit, meinen eigenen Interessen zu folgen. Dank der vielen wunderbaren Menschen, die ich während meines Aufenthaltes in Krasnojarsk kennenlernte, kamen mir die zwei Monate wie Jahre vor. Fast jeden Tag machte ich neue Erfahrungen, erkundete die Stadt, sang im Schulchor und entdeckte die Wunder und Besonderheiten der russischen Sprache und Kultur.

Rückblickend kann ich aber sagen, dass es eher die schwierigen Situationen waren, die meine Reise so bedeutend gemacht haben. Und damit meine ich nicht nur die Herausforderung, eine neue Sprache zu lernen, sich im Alltag, in der Schule und im neuen sozialen Umfeld zurechtzufinden.

Ich meine die Erfahrung, plötzlich zu realisieren, wie wenig man selbst eigentlich von der Welt, von der Existenz, Lebensweise und Kultur Abermillionen anderer Menschen weiß. Der Schreck, der einem durch die Glieder fährt, wenn man sich überlegt, wie anders das eigene Leben ausgesehen haben könnte, wäre man an einem anderen Ort geboren worden. Dieser Moment, in dem man plötzlich bemerkt, wie stark man durch sein Umfeld geprägt wird, wie viel einen doch mit der eigenen Kultur, mit der eigenen Sprache, mit dem eigenen Herkunftsland verbindet.

Das Thema, das mich während meiner Zeit in Russland am meisten beschäftigte, war allerdings mein Durchsetzungsvermögen und mein Selbstwertgefühl.

Ich merkte schnell, dass ich mich vor allem durch Männer immer wieder kleinreden, verunsichern und in gewisse Verhaltensmuster drängen ließ, die mich frustrierten. Der Sexismus, mit dem ich wiederholt konfrontiert wurde, war nie wirklich explizit — viel mehr bestand er aus einer Menge Körpersprache, überflüssigen Anmerkungen zu meinem Erscheinungsbild und bemitleidenden oder kritischen Blicken, die aber nicht schwer zu deuten waren.

Eine Form von Sexismus, die mir sowohl in Russland als auch schon in Österreich begegnet war, mir aber erst während meines Auslandsaufenthaltes als solcher auffiel, war das sogenannte mansplaining — das Bedürfnis gewisser Männer, Frauen darüber aufzuklären, wie die Welt ihrer Meinung nach funktioniert bzw. (und diese Art des mansplaining ist noch schwerer zu ertragen) wie sie funktonieren sollte. In Österreich wurde mir bereits erklärt, wie man „richtig“ Spagetti isst, in Russland wurde ich dafür betadelt, beim Bezahlen an der Kasse einen gestressten Eindruck zu machen, die Kreditkarte falsch zu verwenden…

Zurück in Österreich begann ich mich mehr mit Feminismus auseinanderzusetzen. Und zu meinem Erstaunen merkte ich, dass ich tatsächlich viel dazugelernt hatte. Plötzlich fiel es mir viel leichter, Männer in ihre Schranken zu weisen, seien es nun männliche Mitschüler oder mein Fußballtrainer.

Und ich muss sagen — es fühlt sich verdammt gut an, ein bisschen mehr Unabhängigkeit von der Meinung anderer und insbesonders auch vom notorischen male gaze erlangt zu haben. Auch diese Entwicklung wurde stark durch meine Erfahrungen in Russland geprägt — sowohl durch die sexistische Verhaltensweise gewisser Männer als auch durch die vielen starken Frauen (und Männer!), die mich unterstütz(t)en und motivier(t)en — an dieser Stelle gebührt auch meiner schlagkräftigen, bad-ass Gastschwester ein großes, großes Dankeschön.

Auch in der Pandemie: Gebt nicht auf, nutzt die Zeit

In letzter Zeit, vor allem in Anbetracht der derzeit geltenden Einschränkungen, wird immer wieder debattiert, ob wir es überhaupt noch nötig haben, unser Land zu verlassen, ob die Globalisierung nicht doch mehr Schaden als Nutzen bringt. Obwohl auch ich eine starke Verfechterin des Umwelt- und Klimaschutzes bin und insofern auch wenig von teuren Kurzurlauben in der Ferne (die meiner Meinung nach auch wenig bis gar keinen kulturellen Wert haben) halte, hoffe ich doch, durch diesen Text festgehalten zu haben, wie viel ein längerer Auslandsaufenthalt bringen kann, wenn man die Absicht verfolgt, den eigenen Blick auf die Welt zu erweitern, die eigene Lebens- und Verhaltensweise zu hinterfragen und neue und inspirierende Menschen kennenzulernen.

Gebt also angesichts der Pandemie den Forscher- und Entdeckungsgeist nicht auf, sondern nutzt die Zeit, um Sprachen zu lernen und mit Menschen in Kontakt zu kommen. Die Welt ist groß(artig)! 

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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