Erzwungen, gefesselt und versöhnt

Leben
Lizanne Daniel / 16.08.2017

Ich habe alles aufgeschrieben. Meine Geschichte, die eigentlich eine Erzählung ist.

Was jetzt noch fehlt, ist ihr Beginn. Jede Geschichte hat einen Beginn. Manchmal ist es eine Marmortreppe aus einleitenden Grüßen, federleicht tanzenden Beschreibungen, die sich empor winden bis zu Intention und Wahrheit. Worte, die zu wunderschönen Bildern in den Köpfen der Leserinnen und Leser verschmelzen. Dann gibt es jene, die sogleich eine Frage aufwerfen, die es zu ergründen gilt, und bei wieder anderen ist der erste Satz nichts Geringeres als der Kern der Geschichte, um den sich alles Weitere windet und rankt.

Aber ich denke, es ist am einfachsten, wenn ich dir sage, weshalb und warum. So wie ich es täte, säßen wir uns gegenüber.

Die folgenden Zeilen erzählen von den vergangenen neun Monaten meines Lebens. Vielleicht sind es auch ein paar mehr, genau weiß ich es nicht. Was ich aber ganz genau weiß, ist, dass ich mit meiner Erzählung nicht alleine bin. Es ist keine einmalige, unverwechselbare Geschichte, die eben aus diesem Grund unbedingt hinausgetragen und geteilt werden muss. Viel eher ist es eine Geschichte, die Millionen Menschen selbst erleben, Männer und Frauen individuell und doch ist es immer dieselbe. Bestimmt wurde sie auch schon ebenso oft aufgeschrieben und dennoch möchte ich mich in die Reihe einfügen. Geschichten können so viel – auch Kraft geben und Mut machen. Vor allem, wenn sie von unebenen Wegen und dem Licht am Ende des Tunnels handeln.

 

Zwang. Selbstzwang.

Jedes Gefühl, mag es noch so unbedeutend und jeder Gedanke, mag er noch so leise gewesen sein – alle waren sie erzwungen. Von tiefstem Grund auf bis zur Oberfläche, von Osten bis Westen mit all ihren vorgelagerten Inseln und Buchten, mit all den in der Vergangenheit eroberten Kolonien. Erzwungen und gefangen.

Ich selbst habe die feinstofflichen Wesen meines Innersten an meinen Willen gefesselt wie an einen Marterpfahl, in der panischen Angst, sie könnten die dunklen, längst vergessenen Orte meiner Seele ergründen. Alle bekamen sie das Wörtchen Muss für die Dauer ihrer Existenz und noch weit darüber hinaus aufgestempelt und eingestochen.

Wie oft habe ich mir selbst gegenüber Hass und Unverständnis für meine physischen, geistigen und seelischen Bedürfnisse empfunden. Wusste mir nicht anders zu helfen als sie mit aller Kraft zu unterdrücken und für den alles durchdringenden Zwang zu versklaven.

Sie mussten sich unter Schmerzen verbiegen und in mein Konzept „Perfektion“ fügen als Untergebene meiner eigenen Verzweiflung.

Ich muss. Zwei Wörter, ein Satz. Subjekt und Prädikat mit einem Sinn, so tief und weitgreifend, dass er beinahe unwahrscheinlich scheint für diesen einen kurzen Satz. Er ist so viel und kann doch immer wieder gleichermaßen auf sein dunkles Skelett heruntergebrochen werden. Seine trostlose Seele freilegend, ein schwarzes Loch, das Fass ohne Boden. Je tiefer, desto endgültiger.

 

Jetzt sitze ich hier, ich wie ich bin. Laptop auf den Knien, Hände auf der Tastatur und Blick am Bildschirm. Ich schreibe über mich selbst und gleichzeitig über die Fremde, die in mir wohnt. Ich durchreise die letzten Monate meines Lebens ein weiteres und letztes Mal. Doch statt sie zu leben, beobachte, urteile und lerne ich. Es steht mir gegenüber, auf Armeslänge und Augenhöhe – mein Selbst, das ich mit Füßen getreten und in die hinterste Ecke meines Seins gestoßen habe. Da steht es und reicht mir die Hand, denn es ist nicht nachtragend, und gemeinsam ist alles leichter. Schlussfolgerung, Reflexion und ein bisschen Wundsalbe für die Risse meiner Seele.

Heute an diesem bewölkten Julimorgen um 9.19 Uhr bin ich die Autorin, die ihre Geschichte zum letzten Mal prüft, um dann endlich das Buch zuzuklappen, tief durchzuatmen und es mit einem Lächeln auf den Lippen freizugeben. Für seinen Weg und für seine Aufgabe, in die Köpfe und Herzen der Menschen zu finden, sie zu wärmen und zu bereichern.

 

Und ich bemerke lächelnd, wie das Brennen langsam abklingt und einem Jucken weicht. Die Wunden heilen.

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