Jugend ohne Gott

Politik
Felix Stippler / 15.11.2016

Wie schafft es die Propaganda von terroristisch-islamistischen Organisationen seit Jahren junge Menschen zu radikalisieren? Insgesamt sind schon über 25.000 Menschen aus Ländern, die von den Konflikten in Syrien und dem Irak nicht direkt betroffen sind, in die Krisenherde emigriert, um sich Terrororganisationen vor Ort, in den meisten Fällen dem IS, anzuschließen. 20% dieser so genannten „Foreign Fighter“ zogen aus Europa in den Dschihad, die meisten von ihnen Jugendliche. Im europäischen Vergleich kommen die meisten Auswanderer aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Deutschland. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl aber liegt Österreich mit 259 Ausreisen, von denen 41 verhindert wurden, bereits an zweiter Stelle nach Belgien.

 

Die Annahme, dass nur solche Personen erfolgreichen radikalisiert werden können, die an einer psychische Störung leiden oder die besonders streng religiös erzogen wurden, ist zwar sehr verlockend und weit verbreitet, aber leider falsch. Zwar will der IS seine Verbrechen als durch Allah und den Koran vorgegeben legitimieren, aber über hundert hochrangige muslimische Geistliche aus aller Welt haben einen 22-Seiten langen offenen Brief geschrieben, adressiert an Abu Bakr al-Baghdadi, den Anführer des IS. In diesem widerlegen sie diese Legitimationen und bewerten die Taten der Terrororganisation als nicht mit dem Islam vereinbar. Ein Zweck dieses Briefes mag es sicher auch sein, jungen MuslimInnen, die noch am Anfang ihres Radikalisierungsprozesses stehen, die Augen zu öffnen. Generell ist es fraglich, inwieweit Religion wirklich der Schlüssel zum Erfolg der islamistischen Rekrutierung ist. Tatsächlich dürften die zahlreichen Rekrutierungen und Radikalisierungen von jungen Menschen eher auf psychologische Faktoren zurückzuführen sein. Die Rekrutierenden des Islamischen Staates sprechen nämlich zwei Bedürfnisse an, die so gut wie jeder Mensch befriedigt haben möchte: Jenem nach Gewissheit bzw. Sicherheit und jenem nach persönlicher Relevanz.

 

Unsicherheit & Perspektivlosigkeit

Unsicherheit über die eigene Zukunft und Perspektivlosigkeit werden von fast jedem Jugendlichen an einem Punkt seiner Entwicklung erlebt, besonders jedoch von jenen, die in sozial schwächeren Schichten aufwachsen, die die Schule entweder frühzeitig verlassen haben oder von ihrer Familie nie besonders viel Unterstützung erfahren haben. Zurzeit liegt die Jugendarbeitslosigkeit in der EU bei 20% und Europa erlebt im Angesicht der Migrationsproblematik einen politischen Umbruch. Viele dieser jungen Menschen sind daher permanent damit konfrontiert, nicht zu wissen, ob sie jemals einen Beruf ausüben werden, der zum Überleben ausreicht, nicht zu wissen, ob das Europa, in dem sie ihre Kinder aufziehen werden, noch ein sicheres sein wird. Antworten auf diese Unsicherheit kann die Propaganda des IS zur Genüge geben. Den Jugendlichen wird ein Weltbild präsentiert, in dem es nur Gut und Böse gibt. Ihnen wird ein Platz in den Reihen derer angeboten, die gegen die „Ungläubigen“ - die ihre fundamentalistischen Ansichten nicht teilen - und für das größere Wohl kämpfen. Aufgehoben zu sein und das Richtige zu tun sind Emotionen, von denen diese jungen Leute bis zum Anfang ihrer Radikalisierung immer nur geträumt haben. Das ist die Zukunft, die sie sich immer herbeigesehnt haben und die ihnen nun so nahe scheint. Eine Zukunft in totaler Ordnung, eine Zukunft ohne Ungewissheit.

 

Den Traum berühmt zu werden, etwas in der Gesellschaft zu gelten und sich selber zu verwirklichen, haben so gut wie alle Jugendliche. Zum Erwachsenwerden gehört auch, sich die Frage zu stellen: Wer bin ich und wer möchte ich werden? Das Gefühl nirgendwo so richtig dazuzugehören ist Begleiter vieler Heranwachsender. In Europa werden Islam- und Fremden-feindlichkeit immer salonfähiger. Rechtspopulistische/-radikale Parteien in der gesamten EU behaupten, dass der Islam nicht zu ihren jeweiligen Staaten gehöre und prangern dessen Verbreitung in Europa als eines der größten Probleme unserer Zeit an. Die Anzahl an rechtsextremistischen Straftaten ist 2015 in Österreich um 40,8% im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Muslimische Jugendliche, die in diesen Gesellschaften aufwachsen, leiden unter immer alltäglicher werdender Diskriminierung. Es fällt vielen zusehend schwerer, sich als Muslime zu identifizieren in eine Gesellschaft zu integrieren bzw. in ihr aufzuwachsen, in der ein Großteil der Mitglieder, den Islam als fremd abtut. Dadurch verschlimmern sich logischerweise ihre Selbstzweifel und Identitätskrisen. Diese werden von den Rekrutierenden des IS aufgegriffen und ausgenutzt. Der IS bietet ihnen eine Möglichkeit Anerkennung zu erfahren, wie sie es in Europa nicht erleben können. Nicht nur werden sie akzeptiert, sondern ihnen steht auch eine Zukunft als Helden des Kalifats bevor. Egal wie ihr Kampf ausgehen sollte, werden sie immer im Gedächtnis der anderen Kämpfer bleiben, sei es als Helden, die die Schlachten überlebt haben oder als Märtyrer, die im Namen Allahs gefallen sind. Ihnen wird ein Sinn im Leben gegeben, eine höhere Macht, der sie dienen sollen. Endlich sollen sie gegen diejenigen kämpfen können, die sie all die Jahre lang aufgrund ihrer Religion und Herkunft schikaniert haben und dabei helfen einen „Islamischen Staat“ zu errichten, der allerdings nicht mit dem eigentlichen Islam zu tun hat.

 

 

Videos als größtes Propagandamittel des IS

Nicht zuletzt stellt die Social-Media Präsenz des IS einen gewaltigen Erfolgsfaktor bei der Radikalisierung Jugendlicher dar. Die meisten Botschaften werden in Videoform übermittelt und gepostet. Meistens mit Untertiteln, die von einem „Foreign Fighter“ übersetzt wurden. In diesen Videos erklären die Rekrutierenden die Zusammenhänge zwischen den Problemen, die die Jugendlichen beschäftigen und denen, die der IS bekämpft. Damit erreicht die islamistische Propaganda zahlreiche Jugendliche in sozialen Netzwerken, die von diesen Videos beeindruckt werden und langsam aber sicher anfangen, sich für diese Idee zu begeistern. Das wird von ihrem sozialen Umfeld allerdings oft erst dann wahrgenommen, wenn es leider schon zu spät ist. Durch das Internet finden Personen am Anfang ihres Radikalisierungsprozesses eine Gemeinschaft vieler Gleichgesinnter, mit denen sie ihn durchlaufen. Diesen aufzuhalten ist so gut wie unmöglich. Radikalisierung ist ein Prozess, der in vielen verschieden Formen und Gestalten auftritt. Bei den einen zieht er sich über Monate oder sogar Jahre und andere werden wiederum innerhalb weniger Tage radikalisiert. Das Wichtigste ist gerade Jugendliche, die aufgrund der oben beschrieben psychologischen Faktoren besonders anfällig für eine Radikalisierung sind, aufzufangen, sowie ihnen Möglichkeiten und Perspektiven für ihr Leben zu bieten.

 

Extremismus-Hotline 0800 20 20 44

Die Extremismus-Hotline ist ein Service des Bundesministeriums für Familien und Jugend und des Bundesweiten Netzwerks offene Jugendarbeit (BOJA), die die Bundesministerin Sophie Karmasin im Interview mit dem „Youth Reporter Team“ besonders betonte. Sie stellt einen wichtigen Schritt in Richtung Radikalisierungsprävention dar. Montag-Freitag 10:00-15:00 Uhr ist das Team der Hotline, das fünf Sprachen beherrscht, erreichbar und ruft ansonsten werktags innerhalb von 24 Stunden zurück. An die 1.500 Gespräche zum Thema Extremismus, rund 750 davon Erstgespräche, wurden bereits geführt.

Wenn dir jemand in deiner Familie oder deinem Bekanntenkreis auffällt, der dabei sein könnte sich zu radikalisieren oder besonders anfällig dafür wäre, bitte wende dich umgehend an die Extremismus-Hotline: 0800 20 20 44

 

 

Quellen:

Verfassungsschutzbericht 2015

Perspectives on Terrorism

Tagesspiegel: Warum Jugendliche zu Terroristen werden

The Psychology of Radicalisation: How Terrorist Groups attract young followers

Psychology not Theology: Overcoming ISIS' secret appeal

The Telegraph: Iraq and Syria: How many foreign fighters are fighting for ISIL?

Interview des Youth Reporter Teams mit Bundesministerin Sophie Karmasin

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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