Politik endet, wo Gewalt beginnt

Politik
Timo Buchhaus / 20.05.2021
1. Mai Demo 2021 Wien

1.Mai 2021, Tag der Arbeit, 15 Uhr 

Ich befinde mich im Sigmund-Freud-Park. Eine Kundgebung der kommunistischen Jugend findet hier statt. Der Redner, ein junger Mann, wirkt aufgebracht, redet über Korruption, über Missstände in der Regierung, die Benachteiligung gewisser Gesellschaftsgruppen während der Krise. Das Publikum scheint es eher gelassen zu nehmen. Die Sonne, und ein Mann, der Bier aus seinem Rucksack an die Versammelten verkauft, tragen ihren Teil dazu bei. Revolutionäre Stimmung? Fehlanzeige. 

Doch was ist der Tag der Arbeit überhaupt? 

Der „Internationale Kampftag der Arbeiterklasse“, wie er auch genannt wird, ist seit dem frühen 20. Jahrhundert im gesamten deutschsprachigen Raum ein gesetzlicher Feiertag, der der Arbeiterbewegung gewidmet ist, und in Österreich vor allem von der SPÖ durch den Maiaufmarsch, aber auch von anderen sozialistischen Bewegungen wahrgenommen wird. Ursprünglich war er dem Gedenken an die blutige Niederschlagung der Chicagoer-Arbeiterstreicks in den 1890ern gewidmet. Im Jahr 2021 ließ die SPÖ den Maiaufmarsch aber coronabedingt ausfallen. 

Zurück zum Geschehen

Etwa eine halbe Stunde später: Der Mayday-Demonstrationszug, der einen Zusammenschluss zahlreicher linker Gewerkschaften und Vereine darstellt, kommt auf der Währingerstraße, auf Höhe des Sigmund-Freud Parks, zum Stehen. 

Eine Abschlusskundgebung mit Fokus auf die Auswirkungen aktueller Politik auf die vom System Benachteiligten, ist angesetzt. Der Park füllt sich. Späteren Schätzungen zufolge sollen etwa 1.500 bis 2.000 DemonstrationsteilnehmerInnen anwesend gewesen sein. Ich sehe hauptsächlich junge Menschen, aber auch Familien und einige Pensionisten. 

Vorfall I

Ich bemerke einen Zwischenfall, bei dem ein älterer Herr und ein junges Mädchen, beide augenscheinlich Mitglieder der Querdenker-Bewegung, sich der Demonstration nähern und von drei DemonstrantInnen, die sich offensichtlich provoziert fühlen, körperlich attackiert werden. Durch das entschlossene Einschreiten eines anderen Demoteilnehmers beruhigt sich die Lage zum Glück wieder rasch. Die beiden ziehen ab. 

Zeitgleich wächst auch das Aufgebot der schon um den Park positionierten Polizei an, konzentriert sich dabei aber, soweit ich das sehen kann, hauptsächlich auf die Seite der Währingerstraße und die unmittelbare Umgebung der Votivkirche. Ein silberner Polizeiwagen, mit auf dem Autodach angebrachten Lautsprechern, beginnt den Park zu umkreisen und Durchsagen zu schalten, die auf die Einhaltung der Covid-19 Maßnahmen, nämlich den Abstandsregeln und der FFP2-Maskenpflicht, pochen. Soweit ich das beurteilen kann, wird dies ohnehin schon getan. Ausnahmen gibt es immer. 

Die Stimmung ist gut, einzig und allein das anwachsende Polizeiaufgebot mutet sonderbar an. Was mir auffällt: Einige der Beamten scheinen trotz Lautsprecherdurchsagen und gesundem Hausverstand selbst auf das Tragen einer Maske zu vergessen. 

Vorfall II

Etwas später ereignet sich ein weiterer Vorfall. Ein paar DemonstranteInnen erklettern das Baugerüst der Votivkirche und hissen ein gelbes Transparent mit dem Schriftzug „Unis Besetz´A Oida“  (das A ist als Anarchiesymbol, ein A in einem Kreis, abgebildet). Sie ernten Jubel. Wie viel Ernst tatsächlich hinter dem Statement steckt, ist mir nicht bekannt, jedenfalls wird an diesem Tag nichts Derartiges geschehen. 

Als sie wieder unten ankommen, werden sie verhaftet. 

Ich bemerke einen Stimmungswandel unter den Demonstranten

Schon während die Kletterer sich daran machen, vom Baugerüst hinabzusteigen, stehen Einzelne im Siegmund-Freud-Park auf und beginnen, sich in Richtung Votivkirche zu bewegen, wo die Polizei gerade dabei ist, die Verhaftung der Kletterer durchzuführen. Auch ich gehöre zu den ersten, die sich auf den Weg machen, damit ich den weiteren Verlauf einigermaßen gut beobachten kann. 

Schnell werden es mehr. Ein mit Megafon bewaffneter Mann beginnt wütend die Freisetzung der festgenommenen DemonstrationsteilnehmerInnen zu fordern. Die Menge skandiert: „Lasst sie frei!”, und kommt den Polizisten dabei zum Teil richtig nahe. Gewaltausübung kann ich hier noch von keiner der beiden Seiten beobachten. Auch aktive Versuche der DemonstrantInnenen, die Festgenommenen zu befreien, sehe ich nicht. Der Ton gegenüber den Beamten wird allerdings rauher. 

Derweil stößt ein weiterer Trupp PolizistInnen dazu, positioniert sich hinter den DemonstrantInnen und bildet eine Art Kreisformation, in deren Mitte die so eben festgenommenen Erkletterer des Baugerüsts gebracht werden. Einige Demoteilnehmer ziehen sich daraufhin in den Sigmund-Freud-Park zurück. In geschlossener Formation werden die Festgenommenen nun zu den am hinteren Rand des Votivparks aufgestellten Polizeiwägen gebracht. 

Eskalation

Als einige Demonstranten versuchen deren Abfahrt durch eine Sitzblockade zu verhindern, eskaliert die Situation. Die PolizistInnen beginnen jetzt damit, rabiat durchzugreifen, und mit Stößen und auch schon teilweise durch Benutzung ihrer Schlagstöcke die nähere Umgebung der Wägen zu räumen. Ich werde Zeuge davon, wie ein Demoteilnehmer einen Polizisten beschimpft, daraufhin von diesem in einen Busch gestoßen wird, und am Boden liegend weitere Schläge abbekommt. 

Etwas später werde ich den Mann noch einmal zusehen, wie er gerade die Dienstnummer des verantwortlichen Beamten fordert. Diese wird ihm nicht verweigert, allerdings bekommt er eine Verwaltungsstrafe, deren Höhe mir nicht bekannt ist. Der besagte Polizist ist meines Vernehmens nach Zugskommandant gewesen.

Chaotische Szenen, Einkesselung

Im Votivpark herrscht jetzt absolutes Chaos. Auch hier haben die Polizisten mit sich weiter erhöhendem Aufgebot mit der Räumung begonnen. Da die DemonstrantInnen immer weiter in Richtung Sigmund-Freud-Park zurückfallen, beschließe auch ich, mich auf den Weg dorthin zu machen, werde auf meinem Rückweg Zeuge einer weiteren Verhaftung, deren Grund ich allerdings nicht erkennen kann. Ein junger Mann, der das mit seinem Handy filmt, wird von einem Beamten aufgefordert, zu verschwinden, fällt aber nur wenige Meter zurück und filmt weiter. Mittlerweile ist auch eine Hundestaffel der Polizei dazugestoßen, hält sich aber eher im Hintergrund. Die Beamten scheinen ihre Mühe damit zu haben, die kläffenden Hunde zurückzuhalten. 

Als ich nach etwa hundert Metern, auf die 8.-Mai-Straße, zwischen Roosevelt-, und Sigmund-Freud-Park stoße, gibt es für mich erstmal kein Weiterkommen mehr. 

Hier hat sich jetzt der Großteil der DemonstrantInnen versammelt, wird dabei aber von einem aus Richtung Währingerstraße anmarschierenden Zug der Polizei bedrängt. Ich beobachte, wie die im Votivpark verbliebenen Polizeikräfte damit beginnen, sich neu zu formieren und kurz darauf in geschlossener Formation in die Menge stoßen, und mit Stößen und Schlägen eine Schneise schlagen und die Menge der Demonstranten zerteilen. Ich sehe ein paar Flaschen in Richtung Polizei fliegen und höre, wie sie am Asphaltboden zersplittern. Da aus Richtung Universitätsstraße ein weiterer Zug Polizisten näher kommt, entsteht eine Art Einkesselung. 

Weil der Abstand zwischen den einzelnen Zügen schnell kleiner wird, setzen die meisten DemonstrantInnen zum Ursprungsort, dem Sigmund-Freud-Park, zurück.

Die Polizeiformationen treffen aufeinander und bilden eine lange Linie. Das alles in einem rasanten Tempo. Da ich, um möglichst viel mitzubekommen, relativ lange in der Einkesselung bleibe, schaffe ich es, gemeinsam mit einigen Demonstranten nicht rechtzeitig hinaus, gerate zwischen die Polizisten und werde von diesen gleich weiter gedrängt. Meine Hände habe ich leicht erhoben, um zu signalisieren, dass ich nicht vorhabe, gewalttätig zu werden. 

Die Situation ist chaotisch. Die kleine Lücke in der den Sigmund-Freud-Park umgebenden Hecke, auf die wir zugetrieben werden, wird von einem Beamten, der mit dem Rücken zu uns steht, versperrt. Ich stolpere, strauchle ein paar Schritte vorwärts. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie eine Frau ebenfalls stolpert, sich versucht aufzurichten, dabei von einem Polizisten wieder auf den Boden gestoßen und getreten wird. 

Ab jetzt geht alles sehr schnell. Die Polizei beginnt Pfefferspray gegen die Demonstranten einzusetzen, die sich noch in der Nähe der Hecke aufhalten. Da ich mich noch immer sehr nahe an der Hecke befinde, kriege auch ich etwas ab. Voll in die Augen. Am Tag darauf kann ich sogar Aufnahmen finden, die den Vorfall dokumentieren. Einen Grund für den Einsatz des Pfeffersprays kann ich nicht erkennen. 

Zum Glück wird mir schnell von einigen Frauen geholfen, die mich aus dem Geschehen entfernen. Allerdings bekomme ich ab hier, abgesehen vom Lärm, nicht mehr viel mit. Dieser hält noch einige Zeit an, verebbt aber zunehmend. Auf Videoaufnahmen werde ich später sehen, wie die Demonstration weiter in den Sigmund-Freud-Park gedrängt wurde und es dort zu weiteren Gewalthandlungen seitens der Exekutive kommt. 

Dekompression

Als ich meine Augen etwa eine halbe Stunde später, durch die Hilfe eines Sanitäters der Vienna Street Medics, wieder gebrauchen kann, sehe ich, dass die Lage sich mittlerweile wieder einigermaßen entspannt hat. Die DemoteilnehmerInnen sitzen genau wie am Anfang der Kundgebung auf der Wiese verstreut. Die Polizei ist rund um den Park aufgestellt. Beide Seiten scheinen völlig erschöpft zu sein. Die Luft ist raus. Viele Demonstrationsteilnehmer haben die Kundgebung bereits verlassen, die Reste werden nach einiger Zeit von der Polizei zerstreut. Diesmal ohne viel Action. 

Mediale Reaktionen 

Die medialen Reaktionen in den nächsten Tagen sind unterschiedlich, insgesamt aber eher zurückhaltend. Im Social Media Bereich hingegen finden die Vorfälle einige Aufmerksamkeit, das gewalttätige Verhalten der Polizei wird stark kritisiert. Zudem wird von einigen Seiten der Verdacht auf „Agent Provocateurs” geäußert. Das sind Polizeibeamte in Zivil, die Aufruhr stiften sollen, um der Polizei Vorwände zur Räumung von Demonstrationen zu liefern. Vorfälle solcher Art gab es in der Vergangenheit in anderen europäischen Städten tatsächlich, bestätigen kann ich sie aber in diesem Fall nicht.

Das Innenministerium, derzeit unter der Leitung von Karl Nehammer, spricht von einer „neuen Qualität der Gewalt gegen Polizisten” und von linkem Extremismus und Mitläufertum. Als Rechtfertigung für das heftige polizeiliche Einschreiten, nennt er Attacken auf Beamte während der Festnahme der DemoteilnehmerInnen, die das Transparent aufgehängt hatten. Den Einsatzkräften dankt Nehammer für den konsequenten Einsatz und das Beenden der Tumulte. 

Persönliches (!) Statement 

In den Tagen nach den Ausschreitungen am 1. Mai ging es mir nicht gut. Ich habe Gewalt gesehen, ich habe gesehen, wie es aussieht, wenn die Lage eskaliert und Sprechen nicht mehr möglich ist, ich habe gesehen, wie gnadenlos Menschen werden können, wenn sie sich dazu legitimiert fühlen. 

Ich wünschte, ich könnte sagen dass es Verfehlungen einzelner BeamtInnen waren, die auf Unprofessionalität oder die hochschießenden Gefühle, das Adrenalin, das Chaos zurückzuführen sind. Leider ist dem nicht so, vielmehr hatte ich den Eindruck, dass die Polizei gesammelt und äußerst bewusst ein völlig überzogenes Maß an Gewalt gegen die Demonstration eingesetzt hat. Ich hatte an diesem Tag zudem oft das Gefühl, dass einzelne Beamte das Gewaltmonopol der Exekutive ausnutzten, um zu bestrafen. Zusätzlich wirkte es für mich eher so, als hätte die Polizei die Eskalation ausgelöst, als sie zu verhindern. Die Grundeinstellung gegenüber den DemonstrantInnenen wirkte von Anfang an feindlich. Die Polizei hat für mich an diesem Tag jeglichen Eindruck einer Ordnungskraft verloren. 

Um ein vollständiges Bild zu vermitteln, will ich hier aber noch einmal auf das aggressive Verhalten dreier junger Demonstranten, gegenüber einem jungen Mädchen und einem alten Mann hinweisen die zwar durch die Verbreitung rechter Verschwörungstheorien auf einer linken Demo provoziert haben, aber dennoch friedlich waren.

Politischer Inhalt endet immer da, wo Gewalt beginnt, weshalb es für mich erschreckend war, wie schnell die drei Demonstranten ihre Hemmschwellen gegenüber der Menschenwürde fallen haben lassen. Ich bin froh dass die drei schnell durch einen anderen Demonstranten gestoppt werden konnten und niemand ernsthaften Schaden erlitt. Dem hinzufügen möchte ich aber noch, dass die drei Chaoten definitiv nicht stellvertretend für das Verhalten und die Teilnehmer der Demonstration waren, und dieser Vorfall ein Einzelfall war. 

Stelle ich schlussendlich die ausgeübte Gewalt der Exekutive, der der Demonstranten gegenüber, so muss ich eindeutig feststellen, dass die Waagschale zu Lasten der Polizei ausfällt. Gewaltbereitschaft auf Seiten der Demonstration konnte ich nur sehr vereinzelt beobachten, während die Polizeikräfte vor Ort gegen die Gesamtheit gewalttätig wurde und das, meiner Meinung nach, auch völlig ungerechtfertigt. Den „Freund und Helfer“ konnte ich an diesem Tag jedenfalls in keinem der anwesenden Beamten erkennen. 

Ich bin ebenfalls von der Reaktion des Innenministeriums enttäuscht, dass dieses Verhalten im Nachhinein auch noch gedeckt und meiner Ansicht nach falsch dargestellt hat. Den Ausdruck „Einschreiten“, der im diesbezüglichen Statement des Innenministeriums gebraucht wurde, finde ich hier einfach nicht passend, denn er vermittelt das Gefühl, dass die Polizei Gewalt verhindert hat, wobei der Sachverhalt in meinen Augen genau umgekehrt war. 

Abschließend danke ich den Vienna Street Medics für ihren selbstlosen Einsatz, und richte mich an alle Menschen die Zeugen von Ungerechtigkeit sind um sie zu Zivilcourage aufzufordern und dazu Menschlichkeit walten zu lassen, wo Unmenschlichkeit geschieht.

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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