Zivilcourage am Wiener Ring
Ein Wochenende voller Regierungschaos liegt hinter dem Land, die politische Stimmung ist aufgeheizt. Das EU-Wahlergebnis trägt teils merkwürdige Früchte, der Nationalrat spricht der Regierung das Misstrauen aus. Mitten in diese ohnehin schon turbulente Situation platzt am Montag letzter Woche eine Nachricht von nicht minderer Brisanz, begleitet von schockierenden Fotos: Zerschnittene, zerstörte Portraits. Die Bilder zeigen Überlebende des Holocaust und sind Teil einer Ausstellung von Luigi Toscano, die von 07.05. bis 31.05.2019 am Wiener Ring zu sehen war. Schon wenige Stunden nach dem Bekanntwerden der Zerstörungen finden sich Freiwillige zwischen den Bildern ein. „Wir passen auf“ lautet die Devise. Und das rund um die Uhr. Bis die Ausstellung zu Ende ist.
Ein Lokalaugenschein
Das Wetter ist immer noch grau in grau, doch zumindest regnet es nicht mehr, als ich dienstagnachmittags beim Volksgarten ankomme. Schon von weitem sieht man die riesigen Portraits der Ausstellung „Gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano. Selbige Bilder, die am Montag zerschnitten aufgefunden wurden, sind bereits wieder zusammengeflickt, die Nähte sieht man nur bei genauem Hinsehen. Trotzdem schockiert mich der Anblick, denn allein der Gedanke, mit einem Messer in das Portrait eines Menschen zu stechen, grenzt für mich an Körperverletzung.
Neben der Ausstellung: Drei weiße Zelte. Hier und zwischen den Bildern haben sich Leute positioniert, um aufzupassen. Wer die Idee zur Mahnwache zuerst hatte, ist nicht ganz klar. Irgendwie alle gleichzeitig. Alle, das sind die YoungCaritas, die Muslimische Jugend, die Katholische Jugend und die Künstlerinitiative Nesterval. Sie haben sich gemeinsam organisiert, verbreiten die Veranstaltung auf Social Media und sorgen dafür, dass rund um die Uhr Menschen hier sind. „Jetzt sind wir hier. Und passen auf. Und wir bleiben da.“, erklärt Alice Uhl, Leiterin der YoungCaritas. Und das auch bei Schlechtwetter. Am Vormittag hätten sie schon gedacht es höre gar nicht mehr auf zu regnen, erzählt ein Mädchen, „aber die Zelte sind dicht. Sonst würde das nicht gehen.“
Zwischen Dankbarkeit und Entrüstung
„Was ich überhaupt nicht erwartet hab, ist, dass so viele Leute vorbeikommen und teilweise mit Tränen in den Augen „Danke“ sagen, sagt Nici, die warm eingepackt mit Regenjacke auf einem Klappsessel zwischen zwei Portraits sitzt. Tatsächlich, auch während wir reden, kommt eine Passantin vorbei, bedankt sich und fragt, wie lang alle noch da sein werden. „Das ist das andere Österreich!“, lobt sie die AufpasserInnen.
„Weils genug ist, weils mir reicht. Weils einfach ein Einzelfall zu viel ist, auch hier jetzt“, erzählt Nici weiter über ihre Beweggründe hier zu sein. „Keinen Millimeter weiter“, fügt ihre Freundin Bettina hinzu. Sie werden erst wieder weggehen, wenn Hunger und Kälte überwiegen. Bis dahin unterhalten sie sich mit anderen Freiwilligen und PassantInnen. Das dominierende Gesprächsthema ist der Holocaust, die Geschichten der Überlebenden auf den Portraits werden diskutiert, die Stimmung ist ein wenig gedrückt. Auch Mirco diskutiert mit, er ist Teil des Ausstellungsteams und hat die Schäden selbst vorgefunden. „Es gab ja mehrere Vorfälle. Der erste Fall, der groß in den Medien war, waren Hakenkreuze und antisemitische Sprüche auf den Bildern.“ Diese Beschmierungen hätten sogar am helllichten Tag stattgefunden, erzählt Mirco, doch seinen Infos nach seien noch keine verdächtigen Personen ausfindig gemacht worden.
Rosen und andere Ressourcen
Auf dem grauen, regennassen Asphalt vor den riesigen Portraits liegen Rosen in verschiedenen Farben, einige Grablichter trotzen dem Wind. Immer wieder bleiben Leute stehen, legen in Stille Blumen nieder oder wechseln ein paar Worte mit den Aufpassenden.
Im Zelt stehen einige Sackerl mit verschiedenen Lebensmitteln, und es wird ständig mehr vorbeigebracht. „Da, ein bisschen was Süßes“, schmunzelt ein Mann und übergibt ein weißes Sackerl mit Riegeln und Schokolade. Ein Freiwilliger bedankt sich und lacht: „Wir haben fast nur Süßes.“ Ein Blick ins Zelt bestätigt das. Wie aus dem Nichts taucht eine junge Frau auf, sie bringt Smoothies. Verhungern wird man hier definitiv nicht. Das einzige kleine Problem ist die WC-Suche. „Probiers in der Hofburg“, witzelt eine Freiwillige. „Der Bundespräsident hat eh am Vormittag vorbeigeschaut, der hat sicher nichts dagegen wenn wir sein Klo benutzen.“
Neben Essen und Trinken bekommen die Freiwilligen auch viele andere Dinge zur Verfügung gestellt, erzählt Asma Aiad von der Muslimischen Jugend Wien. Sie lobt die Zivilcourage der Menschen. „Wir stehen hier gerade unter dem Zelt der Gewerkschaftsjugend, das ist voll nett. Dann hat sich die freiwillige Feuerwehr gemeldet, die haben uns Betten zur Verfügung gestellt, weil wir in der Nacht da am Boden gelegen sind. Und wir haben Stühle von einem Beisl bekommen. Es unterstützen immer mehr, sowohl Privatpersonen und kleinere Initiativen als auch größere Organisationen, die sagen wir supporten das, wir wollen auch ein Teil davon sein.“
Wien, das schwarze Schaf
Warum sie als eine der ersten ein Teil der Initiative war, bringt Asma auf den Punkt: „Ich hab mir gedacht das ist extrem org, da wird so ein wichtiges Thema hier portraitiert und abgebildet, Menschen sind so mutig sind dass sie sich zeigen, dass sie sich portraitieren lassen und dann finden diese Beschädigungen statt. Und ich finde das kanns nicht sein, dass das mittlerweile schon zum dritten Mal stattfindet, einfach stattfinden kann.“ Alice von der Youngcaritas pflichtet ihr bei: „Die Ausstellung war in 13 Städten dieser Welt, in den USA, in Osteuropa, in Mitteleuropa, überall. Nirgends ist was passiert. Und in Wien drei Mal! Ich möchte mich nicht für Österreich in Grund und Boden schämen einfach. Es reicht eh was momentan so los ist. Irgendwo ist einmal genug.“ Deshalb steht sie nun in ihrer roten Caritasjacke hier, und das schon lang.
Zivilcourage verbindet
Es wird langsam Abend und es wird voller rund um die Portraits. Immer mehr Menschen strömen herbei, einige um nur kurz „Hallo“ zu sagen, andere um sich einen Sessel zu schnappen und die Nachtstunden zwischen den Bildern zu verbringen. Asma macht heute Nachtschicht: „Ich war gestern bis 4 Uhr früh und dann bin ich nachhause gefahren schlafen und Unipause. Jetzt bin ich wahrscheinlich wieder bis 4 da.“ Zwei junge Muslimas haben sich ins Zelt zurückgezogen, ihre Gebetsteppiche ausgebreitet und beten still. Danach gesellen sie sich ganz selbstverständlich wieder zu den anderen, es wird geplaudert und gelacht, trotz der ernsten Thematik.
Manche haben sich erst vor wenigen Stunden kennengelernt, dennoch ist der Umgang miteinander so vertraut, als würde man sich schon jahrelang kennen. Auch ich werde nach zwei Stunden mit einem herzlichen „Bussi Bussi“ verabschiedet. Nici hat inzwischen der Kälte nachgegeben, verspricht aber, bald wieder zu kommen, denn: „es ist voll schön, wildfremde Menschen werden hier zu Freunden. Und das ist das Österreich und das Wien, das ich sehen will.“
Was bleibt.
Am Samstag, 1. Juni 2019 wurde die Ausstellung mit tatkräftiger Unterstützung freiwilliger HelferInnen abgebaut. Doch die Bilder verschwinden damit nicht in der Versenkung: Wie der Künstler Luigi Toscano auf Facebook bekannt gibt, hat das National Museum Österreich (Haus der Geschichte) beschlossen „aufgrund der Historischen Dimension und Bedeutung der Ereignisse hier in Wien, einige der beschädigten Exemplaren in die Sammlung aufzunehmen, dauerhaft auszustellen und somit auch unter Denkmalschutz zu nehmen.“ Auch die Geschichten der vergangenen Tage sollen festgehalten werden. Die Caritas plant ein Buchprojekt über die Aktion und ruft alle AufpasserInnen auf, sich zu beteiligen. Alle, die in den letzten Tagen aufgepasst haben, haben ein bemerkenswertes Zeichen gesetzt für Gemeinschaft und Zivilcourage – und gleichzeitig gegen Antisemitismus. Sie habe gezeigt, dass es auch ein anders Österreich gibt, als das chaotisch-korrupte Politgezeter, dass durch die Medien ging. Ein Österreich, das gegen Antisemitismus aufsteht. Ein Österreich, das aktiv gegen das Vergessen arbeitet. Das ist unser Österreich.
Quellen und weiterführende Infos:
Die Presse: Haus der Geschichte stellt zerstörte Holocaust-Portraits aus
Der Standard: Wie Aktivisten die Bilder der NS-Überlebenden schützen
Das Biber: Luigi Toscano-Ausstellung
Facebook:
- Aktion: Wir passen auf! (https://www.facebook.com/events/365447597431379/)
- Luigi Toscano (Künstler)
- Klaus Schwertner (Generaldirektor der Caritas)
- Nesterval
- Muslimische Jugend Österreich
- Katholische Jugend
- Wien YoungCaritas
- jüdische Österreichische HochschülerInnen