Tupperdosen aller Nationen, vereinigt euch!

Leben
Andrea Ortner / 29.04.2020

Begonnen hat alles mit dem Alman-Artikel

Ich lese Zeit Online und stolpere über Alman. Zuerst musste ich schmunzeln. Der Autor führt den Begriff aus: „Jemand, der oder die sich an Regeln hält, nach einem strikten Zeitplan lebt, immer die Hausaufgaben macht, nicht die Schule schwänzt.“ Die ehemaligen KlassenkollegInnen würden dies wohl nicht unterschreiben. Weiter: Ein Alman ist das "Gegenteil von Coolness und Lockerheit“ und habe „Tupperdosencharakter“.  

Wie bitte?

Selbsternannte ExpertInnen im Internet füllten kurz darauf auch schon brav die Kommentarspalte unter dem Artikel. 

Alex* (Name von der Redaktion geändert) schreibt zum Beispiel: "Alman sein bedeutet auch: weniger herzlich und hilfsbereit sein, andere Kinder beim Mittagessen heim oder ins andere Zimmer schicken, während man selbst zu Mittag isst, nicht zu teilen und einzuladen, geizig und isoliert zu sein. Im Türkischen gibt es den Terminus "alman hesabı" = deutsche Rechnung, die für das getrennte Zahlen steht. Sowas [sic] gibt es in "anderen Kulturen" eben nicht.“ 

Darunter finden sich weitere 59 Kommentare. Ein paar davon empören sich; So seien „wir“ (gemeint sind Deutsche und ÖsterreicherInnen) doch gar nicht. Und überhaupt, was der Userin denn einfalle, so "als Gast in Deutschland".  

Andere beschreiben ähnliche Erfahrungen aus ihrer Kindheit, stellen Kulturen einander gegenüber, manche wertend, andere neutral. Kaum verhohlene, unterschwellige Aggression auf beiden Seiten. Die wenigsten VerfasserInnen wirken wirklich hasserfüllt. Eher angegriffen, verletzt. „Das ist meine Identität, die ihr hier runter macht!“ schreit es einem von beiden Seiten entgegen. Unverständnis hüben wie drüben.

Grübelnd schließe ich den Artikel, packe meine Tupperdose aus und beginne an meinem Jausenbrot zu kauen.

Die demografische Entwicklung – (k)eine Bedrohung 

„Bald sind wir neun Millionen“ war in den „Salzburger Nachrichten“ am 13. Februar 2020 zu lesen. Der Artikel beruft sich auf die Statistik Austria, die in ihrer neuesten Erhebung feststellte, dass seit 2010 Österreichs Bevölkerung um 6,6 % gestiegen ist. Der AusländerInnen-Anteil (Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft) liegt landesweit nun bei 16,7 %, in Wien sogar bei fast 31 %.  

Foto: Pixabay

Ungeachtet dessen, dass die größte Ausländergruppe immer noch aus unseren Deutschen Nachbarn gebildet wird, liest man in den Kommentarspalten schon von „feindlicher Übernahme“ und vom „Fremd-Werden im eigenen Land“.  

Ja sapperlot. Soweit kommt´s noch, dass wir „Sahne“ statt „Schlågobers“ sagen müssen! 

Zwischen Kultur und Voruteilen 

Aufgrund der oben beschriebenen Entwicklung fühlen sich (leider) viele Menschen bemüßigt, die „eigene“ Kultur abzugrenzen, und diese Grenzen werden anhand von Vorurteilen und Stereotypen gezogen.  

Manche "Vorurteile" durchaus erfüllen einen Zweck, denn sie unterstützen unser Gehirn beim Umgang mit den vielen Daten, die es zu verarbeiten hat. Sie sind also eine notwendige Simplifizierung, spiegeln aber nicht die wahre Welt wider. Problematisch an Vorurteilen ist die negative Darstellung vermeintlich „typischer“ Verhaltensweisen, denn sie schreit geradezu danach, sich verbal zu wehren, zum Gegenangriff anzusetzen, härter auszuteilen.  

Ich selbst habe immer schon nach einem strikten Zeitplan gelebt, Hausaufgaben gemacht und Tupperdosen verwendet. Die Rechnung wird geteilt. Freunde und Freundinnen blieben selten zum Essen, denn gegessen wurde meist zu Hause, bei der eigenen Familie, denn man wollte sich über den Tag unterhalten und beisammen sein. Aber natürlich wäre es andersrum auch kein Problem gewesen.

Noch nie habe ich mir Gedanken darüber gemacht, und trotzdem haben mich diese eingangs zitierten Beschreibungen verärgert, auch wenn es im Grunde keinen besonderen Anlass dazu gab. Denn Kultur ist kein Besitz, der einem durch generalisierende Äußerungen streitig gemacht werden könnte.  

Kultur ist ein geistiges Gut, dass erlebt und erweitert werden kann und soll, nicht abgegrenzt. Reisende kennen das: Ständig wird Neues aufgesogen, Traditionen überdacht und neue Rituale und Sprechweisen in das eigene Repertoire übernommen. Sei es eine japanische Tee-Zeremonie, Latein-Amerikanische Tänze oder Ajvar - „fremde“ Kulturelemente bereichern das Leben (und die Geschmacksknospen)! 

Menschen dort abholen, wo sie stehen 

Das heißt natürlich nicht, dass man die Ängste jener Menschen, die sich in einer multikulturellen Gesellschaft wie in Wien unwohl fühlen, nicht ernst nehmen soll. Oder gar ins „rechte Eck“ stellen. Denn was diese Menschen beschäftigt, ist die Angst vor dem Unbekannten, die überall dort auftaucht, wo verschiedene Kulturbegriffe aufeinandertreffen. Für ebendiese Angst gibt es allerdings eine simple Lösung: Den Dialog. 

Beide Seiten sollten voneinander erzählen und die Geschichten hinter den Gesichtern hören, verstehen, mitfühlen. Fragen wie „Was war für dich in Österreich ganz neu?“, „Was wäre für mich in deinem Herkunftsland gleich wie hier?“, „Was vereint uns?“, „Wie denkst du über …?“ sollten wir stellen und auch beantworten. Wie viel könnten wir voneinander lernen, vielleicht auch über uns selbst?

Diesem Gedankengang folgend schließe ich meine Tupperdose und starte meine eigene, kleine Umfrage unter Bekannten, die aus dem Ausland nach Wien gezogen sind. 

Österreich aus einem anderen Blickwinkel - meine Umfrage

wortwolke.com Umfrage

Auffallend an den Antworten der Umfrage ist, dass viele am meisten zu schätzen wissen, was für die meisten ÖsterreicherInnen wohl selbstverständlich ist: Sicherheit und freies Studieren wurden am öftesten genannt. Es gibt keinen Krieg hier, nachts kann man getrost alleine nach Hause gehen. Ein Luxus, für uns aber selbstverständlich.

Positives

„Österreich ist ein sehr angenehmes Land, es gibt keinen Krieg, keine existentiellen Probleme, die Lebensqualität ist extrem hoch, die Öffis könnten nicht besser funktionieren.“ 
„Man muss nicht um jede Kleinigkeit kämpfen.“
„Sachen funktionieren einfach.“ 
Weiters wurden die „perfekt funktionierenden Öffis“ genannt, Sauberkeit, das Gesundheitssystem und die vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten. 

Ebenfalls hochgeschätzt wird die in Österreich herrschende Chancengleichheit, die unabhängig von sozialem Milieu, finanzieller Lage und Religion für alle gilt. „Die Tatsache, dass alle studieren dürfen und niemand aus finanziellen Gründen davon absehen muss, studieren zu können, finde ich prima. JedeR hat die Möglichkeit, sich auszubilden und das unabhängig von der sozial-ökonomischen Situation der Eltern, was in anderen Ländern leider nicht immer so ist.“ 

Neu war für viele Befragten die meist gut funktionierende Multikulturalität, die Tatsache, dass am Sonntag (fast) alle Geschäfte geschlossen sind und die Nikolaus-/Krampus-Tradition. Auch der überaus höflich-distanzierte Umgang im öffentlichen Bereich unterscheidet sich Österreich von anderen Ländern. 

Für mich interessant: Die meisten Befragten wussten nicht, wie ausgeprägt in Österreich die unterschiedlichen Dialekte sind. Dies erweist sich - neben der Sprache allgemein - als größte Hürde, da man an ausländischen Schulen natürlich Hochdeutsch lernt. 

Auf meine Frage, was aus den Heimatländern schon bekannt sei, waren die Antworten stets ähnlich: das politische System, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit (wobei letzteres nicht auf alle zutraf und dementsprechend in Österreich sehr positiv bewertet wurde). 

Positive Aspekte Umfrage, Andrea Ortner

Negatives

Im Zuge der Umfrage nannten die TeilnehmerInnen auch einige negative Aspekte. Für mich überraschend bezeichneten mehr als ein Drittel die ÖsterreicherInnen als eher zurückhaltend und verschlossen, Ärger würde eher hinuntergeschluckt und Persönliches nicht gern preisgegeben werden.  

Das mache es unter anderem schwierig, neue Freundschaften zu knüpfen. Zudem sei die Sprache eine sehr große Hürde – weil oftmals kein Hochdeutsch gesprochen wird, sondern einfach im Dialekt. Dazu ein Zitat: 

„Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich mich nie wirklich als ein Teil des Landes fühlen werde, und das liegt an der Sprache. Auch wenn ich jetzt perfektes Deutsch könnte, würde es nie reichen, da man sich erst wirklich zugehörig fühlt, wenn man den Dialekt beherrscht und die innere Kultur, die dazu gehört. Ich fühle mich immer wieder ausgeschlossen, wenn Leute neben mir im Dialekt reden, den ich nicht 100 % verstehe. Und es ist sogar schlimmer, wenn ich versuche, mich durch das Erlernen des Dialektwortschatzes zu integrieren versuche und die Reaktion von der anderen Seite stets herablassend ist: "Du kaunnst des oafach ned, versuchs a ned!".

Wie so oft in Österreich, wurde die ausartende Bürokratie angeprangert, aber immerhin hört man von politischer Seite das (Lippen-)Bekenntnis, dieses Problem angehen zu wollen. 

Beklagt wurden weiterhin die Wiener (Un)freundlichkeit, das Wetter und die Kunst des Jammerns auf hohem Niveau:  „Was ich anders gefunden habe ist die Tatsache, dass Wien, aber auch Österreich im Allgemeinen, eine sehr hohe Lebensqualität genießt, aber irgendwie wurde sie so normalisiert, dass die Österreicher manchmal weniger Toleranz für die kleinen Unannehmlichkeiten des Alltages vorweisen.“ 

Negative Aspekte, Umfrage, Andrea Ortner

Vorteile überwiegen

Alles in Allem bestätigte jedeR der Befragten, dass trotz gewisser Unterschiede die Vorteile überwiegen und ein Zusammenleben zwar manchmal holprig ist, aber durchaus funktioniert. 

Und noch ein Zitat zur Frage: „Wo kommst du denn her?“: „Was ich aber gerne hätte, ist, dass mir diese Fragen über die Herkunft öfters gestellt wird, weil die Antworten auf diese Fragen einen großen Teil unserer Identität zeigen, und sie werden fast nie als rassistisch interpretiert, wenn sie wohlwollend gemeint sind. Meiner Meinung nach bringt es nichts, vorzugeben, dass ich und meine österreichische Kollegin die gleichen Erfahrungswerte hätten und nur über Themen, die in Österreich populär sind, zu reden, wenn ich auch einen anderen Beitrag zu einem Gespräch leisten kann.“

Fazit: „Enjoy Difference. Start Tolerance.“ (Slogan von ProSieben ausgeborgt)

Auch wenn diese Umfrage nicht repräsentativ ist, es zeigt sich ein Trend: So unterschiedlich sind wir gar nicht. Viele der oben genannten Dinge sind genauso relevant für ÖsterreicherInnen, wie für AusländerInnen.  Und ja, natürlich gibt es Unterschiede, schließlich gleicht kein Mensch dem anderen und sind von Umfeld und Erziehung geprägt. 

Aber ist es nicht traurig, dass wir uns so sehr darauf fokussieren, was uns unterscheidet, anstatt all die Dinge zu sehen, die uns vereinen?  

Denn trotz unserer Individualität sind wir doch nur Menschen mit Ängsten und Leidenschaften, mit Ambitionen fürs Leben, mit Tupperdosen im Küchenschrank und einer Stimme, die es verdient, gehört zu werden. 

 

Bilder: Pixabay, www.wortwolken.com, privat

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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