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Es ist wieder soweit. Regenbogen-Fähnchen zieren unsere Straßenbahnen, Gebäudefronten sind plötzlich bunt, Schaufenster werben mit zahlreichen Artikeln in Regenbogen-Farben, Conchita auf allen Titelblättern. Geübte, aufmerksame BeobachterInnen ziehen aus dieser unerwarteten Farbexplosion sofort eine präzise Schlussfolgerung: Wien möchte mittels exzessiver Anwendung der Farbpsychologie die Depressionsrate hierzulande senken. Ein Blick in den Kalender legt aber eine andere Vermutung nahe: It´s PRIDE-Month!
LGBTIQ*, wofür steht das denn genau?
Dieser Begrifft bedeutet „Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Intersex-Queer“, wobei Transgender Personen sind, die sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren. Intersex bedeutet, dass jemand körperliche Merkmale beider Geschlechter aufweist und deshalb nicht genau zugeordnet werden kann. Erst 2018 erkämpfte Alex Jürgen für Österreich den offiziellen Gechlechtsstatus „divers“, der als „X“ im Reisepass vermerkt wird und als „drittes Geschlecht“ bekannt ist. Es gibt neben oben genannten noch weitere Gruppen, die von der Heteronormativität abweichen, die also eine andere Geschlechterrolle, Geschlechtsidentität bzw. Lebensweise haben als die „heterosexuelle Norm“. Diese symbolisiert das Sternchen (oft auch als + dargestellt). Das Wort „Queer“ kann man sich als bunten Regenschirm vorstellen, der alle Begriffe umfasst.
Der Geburtsort der Queer-Bewegung...
…befindet sich in der Christopher Street, Ecke 7th Avenue in Greenwich Village. In den 60ern führte die New Yorker Polizei mehrere Razzien in Schwulenbars durch, oft mit Gewalt. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 stießen sie im Stonewall Inn erstmals auf Widerstand. Nachdem die Polizei das Inn geräumt hatte, küssten sich Lesben, Schwule und Transgender provokativ auf der Straße. Leute kamen dazu, unterstützten die Demonstrierenden. Der Widerstand hielt an. LGBTIQ*s begannen sich zu organisieren und für Toleranz zu kämpfen. Seit damals wird in NewYork jährlich mit dem Christopher Street Day an die Straßenschlachten erinnert und das Queer-Sein gefeiert. Die sogenannten CSDs breiteten sich aus und auch in anderen Städten regte sich Widerstand gegen Diskriminierung.
Und was ist mit Wien?
In Wien indes heißt die Gay-Pride-Parade Regenbogenparade, denn unter diesem Namen startete die Veranstaltung im Jahr 1996 mit 25 000 Besuchern (laut den VeranstalterInnen). Heute, 23 Jahre nach der ersten Wiener Regenbogenparade (und 50 Jahre nach den Stonewall Riots) kamen eine halbe Million BesucherInnen. Nicht nur aus Österreich, denn 2019 fand die größte Pride-Veranstaltung der europäischen LGBTIQ*-Community in Wien statt: Die EuroPride, die jedes Jahr in eine andere europäische Stadt zieht und dieses Jahr unter dem Motto „together and proud“ steht. Wien kann sich also zu Recht als Regenbogenstadt bezeichnen. Nicht nur wegen den berühmten Ampelpärchen, die es seit dem Eurovision-Songcontest 2015 gibt. Auch Pride-Flaggen schmücken Straßenbahnen und unser Rathaus; vor der Uni-Wien ist der große Zebrastreifen von nun an – permanent – nicht mehr schwarz und weiß, sondern bedient sich allen Farben des Regenbogens. Dazu kommen der jährliche Lifeball und die Regenbogenparade, sowie viele andere Events und Locations.
Ich liebe mein Kind, so wie es ist!?
Hinter diesem sichtbaren queeren Aspekt Wiens stehen natürlich treibende Organisationen, die all jenes ermöglichen: unter anderem die HOSI-Wien (Homosexuelle Initiative Wien), die Familienberatungsstelle COURAGE*, TransX – Verein für Transgender Personen, die WASt (Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen), aber auch die wienXtra-jugendinfo und natürlich die Stadt Wien selbst leisten ihren große Arbeit, um Wien zu einer Stadt für alle zu machen, Diskriminierung zu bekämpfen und Toleranz zu stärken.
Die Frucht der Zusammenarbeiten der zuletzt genannten Organisationen (wienXtra-jugendinfo, WASt und Stadt Wien) ist auch die neue Broschüre „Vielfalt – Ich liebe mein Kind, so wie es ist?!“. Diese richtet sich speziell an „Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen, die sich in der Bandbreite der sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten anders definieren als die Mehrheit“.
Auf 42 Seiten behandeln die AutorInnen Fragen, die häufig von Eltern in diversen Anlaufstellen gestellt werden, wie etwa „Was werden die anderen sagen?“, „Ist das nur eine Phase?“ oder „Lesbisch, bisexuell, schwul, trans* - was ist denn das?“. Dabei ist es besonders wichtig, die Menschen „dort abzuholen, wo sie gerade stehen“, wie Wolfgang Wilhelm (WASt) betont.
Eltern im Outing-Prozess
Für viele Väter und Mütter sei es nämlich das erste Mal, dass sie sich mit dem Thema Homosexualität/LGBTIQ* auseinander setzen (müssen). Es herrscht viel Unwissen und Ungewissheit, oft verbunden mit einer gewissen (Zukunfts-)Angst, manchmal auch Abneigung. An dieser Stelle setzt die Broschüre an: Ohne sich aufzudrängen gehen die VerfasserInnen auf alle Fragen ein und beantworten sie gewissenhaft, nehmen die Ängste der Fragestellenden ernst, ohne einen Vorwurf ob deren Skepsis zu erheben. Es sei schließlich normal, mit einer solchen Situation überfordert zu sein – gewissermaßen müssen die Eltern nun den Outing-Prozess durchlaufen, mit dem sich deren Kind schon jahrelang vorher auseinandersetzten musste. Dies dürfe aber nicht zu Lasten der familiären Beziehung fallen – denn eines ist klar: Das Kind ist immer noch das Wichtigste und „es ist und bleibt DEIN Kind. Du weißt jetzt nur noch mehr über deinen Sohn/deine Tochter“, fasst Susi Dietrich (wienXtra) den Grundtenor des Werkes zusammen. Um den Prozess für Eltern und Kind zu erleichtern, schlägt die Broschüre vor, sich Hilfestellungen von außerhalb (siehe Links am Ende) zu holen. Dies gibt sowohl den Eltern, als auch dem Kind Raum und Möglichkeit, die Situation von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten und sich auch mit Gleichgesinnten auszutauschen.
Wo bleibt die Repräsentation?
Obwohl Österreich und insbesondere Wien Vorreiter in Sachen Liberalität und Toleranz zu seinen scheint, kämpfen nach wie vor viele queere Personen mit Klischees, sozialer Ausgrenzung, Ignoranz und Diskriminierung. Schuld daran sind wohl zum Teil Literatur, Film und Medien, die LGBTIQ*s klischeehaft oder gar nicht darstellen. Der Bevölkerungsanteil an queeren Personen beträgt 10 %. Wo bleibt die Repräsentation dieser in Romanen, in Film und Fernsehen? Nicht nur DragQueens und DragKings. Wo sind die „gewöhnlichen“ queeren Personen, abseits vom Klischee? In unserer heteronormativen Gesellschaft werden LGBTIQ*s immer als Ausnahme dargestellt. So lernen Schüler in Sexualkunde nicht, dass es verschiedene Arten von Geschlechteridentität und sexueller Anziehung gibt.
Sie lernen, dass heterogene Pärchen der Standard sind – und der Rest Abnormalitäten. Wobei, hat ihnen das nicht bereits die Gesellschaft beigebracht, als sie ihnen keine queeren Kinheitshelden gab? Immerhin, selbst die WHO hat „Transsexualismus“ bis 2018 der Kategorie der mentalen Krankheiten zugeordnet. Doch „Krank sind nicht die Menschen, die ihr Geschlecht wechseln. Das Problem liegt in der Gesellschaft“ stellt die Wiener Antidiskriminierungsstellte für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen in ihrer Broschüre Trans*identitäten klar. Denn diese Sichtweise „grenzt die Vielfalt menschlicher Geschlechtspositionen auf zwei normierte Kategorien ein und blendet die Tatsache aus, dass Geschlecht in der sozialen Interaktion erst gemacht wird und ein historisch veränderbares, soziales, kulturelles und politisches Verhältnis zwischen Menschen ausdrückt.“
Sind wir nicht alle ein bisschen „Bi“?
Auch bei der Einteilung in „hetero-“, „bi-“ und „homosexuell“ könnte ein anderer Blickwinkel nicht schaden. Im Jahr 1948 revolutionierte Dr. Alfred Kinsey mit seinem Buch „Sexual Behavior in the Human Male“ das Verständnis von Sexualität, insbesondere das der Homosexualität, indem die Kinsey-Skala vorstellte, die er mit zwei Kollegen auf der Basis von tausenden Interviews entwickelt hatte. Es hatte sich gezeigt, dass "Heterosexualität" und "Homosexualität" keine klar voneinander trennbaren Eigenschaften sind, sondern dass es verschiedene Stufen gibt. Auch die zusätzliche Kategorie der „Bisexualität“ reicht nicht aus, um das gesamte sexuelle Spektrum in seiner Vielfältigkeit und Schönheit zu erfassen.
Vielfalt genießen, Toleranz leben
Und genau diese Vielfältigkeit steht im Pride Month im Zentrum. Damit sich aber ein dauerhaftes Bewusstsein etabliert, ist es wichtig, dass öffentliche Einrichtungen LGBTIQ*s fördern. Wobei hier explizit nicht „positive Diskriminierung“ gemeint ist. Es geht um Gleichheit, um Anerkennung – kurz um „die Menschen zu integrieren, statt hervorzuheben“, wie Marina Hanke (Gemeinderätin SPÖ Wien) die Forderung auf den Punkt bringt. Das Rainbow Cities Network ist ein Zusammenschluss von Städten, die sich genau dieser Aufgabe widmen. Viele europäische Städte, darunter Wien, Berlin und Ljubljana, sowie São Paulo, Istanbul und Mexico City stehen hinter ihrer queeren Community.
Bleibt zu hoffen, dass diese positive Atmosphäre auch nach dem diesjährigen Pride Month erhalten bleibt und die Gesellschaft weiter voranschreitet in eine Zukunft, in der jeder und jede frei leben und lieben kann, ohne Angst und Scham. Wir sind alle Menschen - Menschen mit Ängsten und Leidenschaften, mit Wut und Trauer, mit schrägem Humor und seltsamen Hobbies. Jeder Mensch ist ein Wunder – und genau so sollten wir einander behandeln – selbst dann, wenn der Einfluss exzessiver Farbpsychologie wieder nachlässt.
Beratungsstellen
Familienberatungsstelle COURAGE* Wien
6., Windmühlgasse 15/1/7
Tel. 01/585 69 66 | www.courage-beratung.at
HOSI – Homosexuelle Initiative Wien
4., Heumühlgasse 14/1
Tel. 01/216 66 04 | www.hosiwien.at
TransX – Verein für Transgender Personen
6., Linke Wienzeile
Tel. 0680/241 47 48 | www.transx.at
Türkis Rosa Lila Villa
6., Linke Wienzeile 102
Tel. 01/586 81 50 | www.dievilla.at
WASt – Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen
8., Auerspergerstraße 15
Tel. 01/4000 81449 | www.queer.wien.at
wienXtra-jugendinfo
1., Babenbergerstraße/Ecke Burgring
Tel. 01/4000 84 100 | www.jugendinfowien.at
Die wienXtra-Broschüre "Vielfalt" zum Download: www.wienxtra.at/jugendinfo/broschueren/
Quellen
- Lambda, Ausgabe Nr. 176
- Kinsey Scale
- Planet Wissen: CSD
- Europride
- Rainbow Cities
- Standard: Drittes Geschlecht