Wo Religion in der Luft liegt: ein Tag in Jerusalem

Youth Reporter in Israel
Julia Wendy / 21.11.2017
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Jerusalem

Überwältigt. Das Wort, das meine Eindrücke von heute am besten zusammenfasst, sofern sich diese überhaupt in Worte fassen lassen. Jerusalem. Die heilige Stätte dreier Weltreligionen. Christentum, Judentum, Islam. Die Grabeskirche, die Klagemauer, die Moschee. Überfordert mit Eindrücken. Überwältigt.

Erwartungen

Schon lange Zeit vor der Reise fragte ich mich, was mich in Israel wohl erwarten würde. Orte, die ich sonst aus Bibelgeschichten kenne, würden real werden. Nicht mehr fiktiv wie in meiner Vorstellung. Betlehem, Nazareth, Jerusalem. Biblische Orte, real in Israel.

Natürlich sind diese Orte real, werdet ihr denken, Geografie ist wohl nicht deine Stärke? Um Geografie geht es mir aber jetzt nicht. Mir geht es um Religion. Um Religion, die für mich persönlich wichtig ist und das, obwohl ich mit der offiziellen Lehrmeinung der römisch-katholischen Amtskirche nur zu oft nicht einverstanden bin, nur um das auch einmal festzuhalten.

Jerusalem. Der Ort, an dem laut der Bibel Jesus gewirkt und gepredigt hat, an dem das letzte Abendmahl stattgefunden hat, und auch die Kreuzigung. Wie es dort wohl wirklich sein würde? Gefühlte tausend Mal hatte ich den Namen der Stadt schon gelesen, jedes Mal ein unscharfes Bild im Kopf. Dieses sollte heute klar werden.

Eindrücke

„Willkommen in Jerusalem“. Auf Ursulas Worte hin klappe ich meinen Laptop zu und blicke aus dem Fenster des Taxis. Weiße Häuser aus Kalkstein sind das erste, das ich erblicke. Später erfahre ich, dass beinahe die ganze Altstadt aus diesem Gestein gebaut wurde, was die Orientierung nicht wirklich vereinfacht.

Die Grabeskirche. Ich halte die Luft an, als ich eintrete, habe nicht wirklich eine Ahnung oder Vorstellung, was mich erwartet. Riesig und facettenreich. Die Kirche ist keine Kathedrale, kein Dom, wie man vielleicht nach dem Vorbild römisch-katholischen Kirchen denken würde. Sie ist mehr ein Zusammenbau aus mehreren Kapellen und erinnert mich ein wenig an eine Burg oder ein Schloss. Mit einer Kathedrale hat sie bis auf die großen Kuppeln wenig gemein. Ziellos und planlos schlendere ich herum, versuche möglichst alle Eindrücke irgendwie einzufangen. Genau wie das Land ist die Grabeskirche ein Mischmasch aus Kulturen, oder besser aus christlichen Konfessionen. Als eindeutig römisch-katholisch zuordnen kann ich wenig, vieles erinnert mich an orthodoxe Kirchen. Meine spätere Internetrecherche ergibt, dass sich die Kirche in den Händen von sechs verschiedenen christlichen Konfessionen befindet.

Um eine kleine Kapelle inmitten des großen Bauwerks ist ein riesiger Menschenauflauf. Eine geschätzt 40 m lange Schlange hat sich schneckenförmig um den Ort gewickelt. „Golgota“, erklärt Ursula mir. Golgota, zu Deutsch die Schädelhöhe. Der Ort der Kreuzigung. Hä? Ich stehe gerade drei Meter entfernt von dem Ort, an dem vor nicht ganz 2000 Jahren Jesus gekreuzigt wurde? Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Hügel, von dem in der Leidensgeschichte die Rede ist, sich in diesem Monument befinden soll, um das sich die Menschen jetzt scharen. Trotzdem überkommt mich ein bewegendes Gefühl. Überwältigt. Auf einmal sind die Orte real.

Gleich am Eingang der Grabeskirche befindet sich eine Platte, um die herum Leute knien, Sachen darauflegen und sie küssen. Wie ich heute gelernt habe, soll das die Platte sein, auf der der Leichnam Jesu eingeölt wurde. Obwohl ich im Normalfall mit Reliquienverehrung nicht viel anfangen kann, knie auch ich kurz nieder und berühre die Steinplatte. Sie fühlt sich glatt und warm an, abgegriffen. Wie viele Gläubige wohl schon hier her gepilgert sind und ihre Hände hier draufgelegt haben?

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Als wir später durch die Altstadt spazieren, kommt uns eine kleine Prozession singender Leute entgegen. Mein Möchtegern-Latein sagt mir, dass das Lied Maria verehrt. Danach verstehe ich noch einige Brocken des lateinischen Ave Maria. Auf der Via Dolorosa, wo der Bibel nach der Kreuzweg stattgefunden hat, sieht man immer wieder Leute, die meistens zu mehrt ein fast mannshohes Kreuz durch die Gegend schleppen. Sie wollen die letzten Stunden Jesu anscheinend wortwörtlich nachempfinden. Ja, in Jerusalem liegt wahrhaft Religion in der Luft.

Erfahrungen

Die Klagemauer. Schnellen Schrittes gehen wir durch den muslimischen Markt , durch den wir am Nachmittag noch geschlendert sind. Über die Richtung müssen wir uns diesmal keine Gedanken machen, wir folgen einfach den ultraorthodoxen Juden, die mit langen schwarzen Gewändern, Schläfenlocken und Hut unverkennbar sind. Mir fällt die höhere Militärpräsenz auf. Als die jungen SoldatInnen dann aber gern und cool mit Maschinengewehr für ein Foto posieren, legt sich die Skepsis ein wenig. Vor der Klagemauer müssen wir durch einen Sicherheitscheck, ähnlich dem am Flughafen. „Eh keine Waffen dabei, bist du sicher?“ fragt der Sicherheitsbeamte verschmitzt auf Englisch. Er scherzt noch ein wenig herum, ich darf ohne Probleme passieren. Gut, dass hätte ich mir schlimmer vorgestellt. Dann ragt sie auch schon riesengroß vor uns auf, die Klagemauer, die wir heute schon aus der Ferne fotografiert und beobachtet haben.

Frauen und Männer beten hier getrennt, während ersteren der größere Teil der Mauer zusteht. So verabschieden wir uns kurzzeitig von Sharon, der jetzt auf eigene Faust den Eingang zum Männerbereich finden darf. Wir mischen uns unter die Frauen. Ich sehe Stände mich Gebetsbüchern, weiße Plastiksessel stehen herum. Um mich herum wird gebetet, die meisten sitzen oder stehen mit Büchern herum. Sprechchöre erschallen, unwillkürlich fällt mir der sehr unreligiöse Vergleich mit einem Fußballstadion ein.

Wir bahnen uns den Weg durch die Menge, in der Hand Zettel mit persönlichen Wünschen, die wir in die Mauerritzen stecken wollen. Ich stehe einen Meter davon entfernt. Von jener Mauer, die vom Jerusalemer Tempel übriggeblieben und seither das Heiligtum des Judentums ist. Ein bewegender Moment. Als ich an der Reihe bin, lege ich vorsichtig beide Hände auf den kühlen Stein der Mauer und muss ganz schön drücken damit das Papier in der Steinritze bleibt, so voll ist diese schon. Zu meinen Füßen liegen hunderte Zettel verstreut.

Ich halte kurz inne und trete einige Schritte von der Mauer zurück, immer noch fasziniert von der Magie des Moments. Den Frauen um mich herum geht es nicht anders, die meisten sind in sich gekehrt, manche schluchzen leise vor sich hin. Ich setze mich auf einen weißen Sessel, um kurz sie Eindrücke auf mich wirken zu lassen. So viele Menschen um mich herum. Am Himmel dämmert es bereits.
Dann kann ich meiner Neugier nicht standhalten und laufe ein wenig herum, um möglichst viel zu sehen zu bekommen. Weiter hinten geht es kurzzeitig ausgelassener zu als direkt bei der Mauer. Ein paar Mädchen singen und tanzen dazu im Kreis, andere stehen daneben und klatschen im Takt. Dann ist es wieder ruhig. Dafür erheben sich jetzt auf der Männerseite vielstimmige Sprechchöre. Ich habe das Gefühl, dass es drüben immer übermütiger zugeht, je finsterer der Himmel wird. Und das geht in Israel sehr schnell. Ein paar hüpfende Kippas jenseits des Zauns veranlassen mich zu dem Versuch, mich auf eine Stufe vor den Zaun zu stellen, von der aus man hinüberblicken kann. Kein leichtes Unterfangen, denn die Idee hatten andere auch. Drüben tanzen und springen Männer mit Kippas im Kreis, untermalt von einem religiösen Lied. Dazu wird auf Sesseln im Takt getrommelt, einige sitzen auf den Schultern von Kameraden. Für einen Moment bin ich sprachlos. So heiter hätte ich mir jüdische Gebete beim besten Willen nicht vorgestellt. Irgendwann wird eine Art Polonaise in einer Schnecke getanzt, weiterhin begleitet von Gesängen und Trommelrhythmen.

In all dem Trubel meldet sich in meinem Kopf meine feministische Seite zu Wort, ich empfinde es als unfair, dass die Männer drüben tanzen, während wir Frauen uns an den Zaun drängen und hinüberschauen. Doch unwillkürlich muss ich an die römisch-katholische Kirche denken, wo Frauen zu meinem großen Ärgernis nach wie vor nicht zu Weiheämtern zugelassen sind. Tja, wer ohne Schuld ist werfe den ersten Stein.

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Als wir wieder als Gruppe zusammentreffen merke ich, dass auch die anderen berührt wirken. Beim Rückweg zum Hostel werfen wir aus einiger Entfernung noch einmal einen Blick auf die beleuchtete Klagemauer. Weiß und groß ragt sie vor dem mittlerweile schwarzen Himmel auf. Die Menschenmenge davor wogt, noch immer erschallen vereinzelt Gesänge.

Jerusalem. Die heilige Stätte dreier Weltreligionen. Der Ort ist real geworden, das Bild klar.

 

 

 

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