"64" von Hideyo Yokoyama: Mehr als eine Geschichte

Kultur & Events
Sarah Maly / 09.03.2020
Buchcover: Hideyo Yokoyama 64

Youth Reporterin Sarah Maly behandelt in ihrer ausführlichen Buchkritik den Kriminalroman "64" von Hideyo Yokoyama und taucht dabei tief in die japanische Gesellschaft ein...

Ein ungelöster Fall und seine Vertuschung

Auf über 750 Seiten schildert Yokoyama nicht nur die eigentliche Geschichte, ein seit 14 Jahren ungelöstes Entführungsdrama, sondern zeichnet die japanische Kultur sowie Lebensweise nach und nimmt die Leserschaft in eine fremde Welt mit. Zehn Jahre lang schrieb der frühere Investigativjournalist Hideo Yokoyama an seinem Buch "64". Der 1957 in Tokio geborene Japaner gar einen Schlaganfall. 

Einige Ausführungen werden dabei sehr detailreich erzählt und trotz der enormen Länge ist die Geschichte in sich perfekt konstruiert. Die Handlung ist genau durchdacht, zudem werden immer wieder frühere Geschehnisse aufgegriffen.

Um bei den zahlreichen Figuren und ähnlich klingenden japanischen Namen den Überblick zu bewahren, gibt es zu Beginn des Buches ein zweiseitiges Personenregister. Außerdem werden am Ende in einem Glossar die verwendeten japanischen Begriffe erklärt: Der Titel 64 symbolisiert die 64 Jahre dauernde Shōwa-Zeit (= Ära des erleuchteten Friedens). Dies ist die Amtszeit unter der Regierung von Kaiser Hirohito, die vom 25. Dezember 1926 bis zum 7. Januar 1989 andauerte.

In den letzten Tagen dieser Amtszeit kommt es in Tokio zu einem Drama, der Entführung eines siebenjährigen Mädchens. Dabei gelingt es dem Täter unerkannt mit dem Lösegeld zu fliehen, wenig später wird die Leiche des Mädchens gefunden. Auf Grund dessen erhält der ungelöste Entführungsfall in engsten Polizeikreisen den Namen 64.

Vierzehn Jahre später beginnt Hauptcharakter Mikami, Pressedirektor eines Polizeireviers, selbstständig in dem Fall zu ermitteln, nachdem er die Existenz eines geheimen Memos entdeckt. Mikami, der zum Zeitpunkt der Entführung selbst Teil des Kriminaluntersuchungsamtes war, stößt im Laufe seiner eigenständigen Ermittlungen auf große Geheimhaltung und Vertuschungen. Zudem hat er im Verlauf der Geschichte einige Male schwer mit der Presse zu kämpfen, die äußerst aggressiv und fordernd auftritt. Ebenso zu schaffen macht ihm und vor allem seiner Frau Minako der Umstand, dass ihre 16-jährige Tochter Ayumi bereits vor einiger Zeit spurlos verschwunden ist.

Tiefe Einblicke in die japanische Gesellschaft

Hideyo Yokoyama erzählt jedoch nicht nur diese Geschichte, sondern lässt die Leser und Leserinnen tief in die japanische Gesellschaft blicken und erläutert dabei sehr detailliert das japanische Polizeisystem. Aspekte wie Hierarchie, Unterwerfung und das Streben nach Macht sind in Japan stark verankerte Werte. Durch seine Beschreibungen des japanischen Polizeiapparates, dem ein großer Teil der Figuren angehört, macht Yokoyama die Rolle von hierarchischen Strukturen und Machtansprüchen deutlich.

Was für eine Heuchelei! Euch sind eure internen Machtkämpfe wichtiger als eine Entführung. Nein, ihr benutzt die Entführung – um euch an Tokio zu rächen? (Yokoyama, 2019, S. 581)

Ebenfalls kommt immer wieder durch, dass die Suche nach Anerkennung und Bestätigung von anderen Menschen eine große Bedeutung beigemessen wird.

Alle diese Fälle, diese Unfälle, alle diese Egozentriker. Ich habe angefangen, all das zu hassen. Und da ging mir auf, dass ich meine Arbeit nur deshalb tue, weil ich mich geliebt fühlen will. Weil ich will, dass die Leute mir dankbar sind. (Yokoyama, 2019, S. 535)

Respekt sowie ein höfliches Verhalten gegenüber anderen wird in Japan großgeschrieben. Immer wieder wird deutlich, dass dieses Verhalten bis zur Unterwerfung reichen kann.

Er neigte den Kopf und verbeugte sich förmlich aus der Hüfte. (Yokoyama, 2019, S. 254)

Ebenso vermittelt Yokoyama in 64 ein traditionelles Bild eines arbeitenden Mannes und einer Frau, die sich um den Haushalt kümmert.

Mikami war auf dem Weg nach Hause. Er hatte seine Mitteilung bei Hiyoshis Mutter eingeworfen; inzwischen hatte er sich vorgenommen, den Rest seiner Arbeit telefonisch von zu Hause aus zu erledigen. Minako hatte gekochten Fisch mit eingelegtem Gemüse aufgetischt.“(Yokoyama, 2019, S. 266)

Allerdings haben auch arbeitenden Frauen eine schwere Stellung. Mikumo, eine Mitarbeiterin in der Pressestelle der Polizei, bekommt immer wieder eine gesonderte Behandlung von Mikami zu spüren, der sie mit deutlich weniger anspruchsvollen Aufgaben betraut als seine anderen Mitarbeiter.

Direktor Mikami: "Ihr Gesicht war gerötet. Ihr Blick scharf, ja zornig. Bitte lassen Sie mich mit den anderen ins Amigos gehen." […] "Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, und zwar endgültig", befahl er. (Yokoyama, 2019, S. 113)

Die japanische Presse, die ein zentrales Thema in 64 einnimmt, verfügt über eine überraschend große Macht und tritt oftmals mit einer starken Aggression und großem Druck gegenüber der polizeilichen Pressedirektion auf.

"Wenn Sie uns den Namen der Frau bis morgen Abend nennen, unterbleibt die Beschwerde." "Für mich hört sich das nach einer Drohung an." "So ein negatives Wort. Wie gesagt – mit Ihrer kategorischen und unbegründeten Weigerung, auf uns zu hören, haben Sie uns keine Wahl gelassen." (Yokoyama, 2019, S. 109)

Zeitweise verwunderlich sind auch die Methoden der Pressedirektion. Durch gemeinsame Besuche mit den Reportern in einer Bar sollen diese besänftigt werden.

"Er lud Akikawa ins Amigos ein, die Karaoke-Bar erster Wahl bei den Mitarbeitern der Verwaltung.“ (Yokoyama, 2019, S. 112)

Geduld wird belohnt

Das Buch ist nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch ansprechend. Die Gestaltung des Covers und ein neugierig machender Titel erregen direkt Aufmerksamkeit. Jedoch kann die Bezeichnung „Thriller“ in die Irre führen und falsche Erwartungen an das Buch wecken. Ereignisse überschlagen sich nicht, eher Gegenteiliges ist der Fall. Situationen werden sehr ausführend erläutert beziehungsweise sehr viele kulturbezogene Szenen, welche die eigentliche Handlung nicht wirklich weiterbringen, werden beschrieben. Daher wäre Kriminalroman eine bessere Bezeichnung.

Weiters kritisch zu hinterfragen ist die Entscheidung des Schweizer Atrium Verlages aus der englischen Ausgabe zu übersetzen und nicht direkt aus dem Japanischen.

Nichtsdestotrotz lohnt sich 64 vor allem für jene, die Spannung erwarten, Geduld mitbringen und tief in die japanische Kultur eintauchen möchten. Das Buch wurde 2013 als beste japanische Kriminalliteratur des Jahres ausgezeichnet und erhielt 2019 den deutschen Krimipreis in der Kategorie International. Tobias Gohlis lobt in Die Zeit: „Gäbe es einen Nobelpreis für Kriminalliteratur, "64" hätte ihn verdient.“ 

Buchcover: Hideyo Yokoyama 64

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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