Chaim Miller - Von Angst, Urteil und dem Versuch zu verstehen

Youth Reporter in Israel
Lizanne Daniel / 16.11.2017
Störer: 
Chaim Miller beim Interview

Ich knie mich auf den kühlen fremden Steinboden und lache in die Kamera – für das Foto zum Interview, das wir eben mit Chaim Miller geführt haben. Es wird im Internet veröffentlicht werden, dieses Foto von einer Gruppe junger Menschen. Mitten unter ihnen ein Gesicht, das nicht zu passen scheint und doch irgendwie dazugehört, denn es ist der Grund für dieses Foto. Ein Gesicht, gezeichnet von unzähligen Entscheidungen, Versuchen, Erfahrungen. Und es teilt sich in ebenso viele Furchen, als sich seine blassen Lippen zu einem breiten Lächeln verziehen, während seine trüben Augen mit der Kamera um die Wette blitzen.

Irgendwann während dieses Augenblicks spüre ich die knochige Hand wie sie sanft durch meine Haare streicht. Ich drehe mich um – etwas zu schnell vielleicht, als dass man es als Geste bloßer Neugierde deuten könnte – und schaue in Chaim Millers lachende Augen, die mir sanft zuzwinkern, als wäre ich sein Enkelkind. Und doch stolpert mein Herzschlag unmerklich als sich mein Blick in dem seinen verfängt. Denn ich weiß, die liebevolle Berührung seiner Hand wird sich in meinem Haar und Gedächtnis einbrennen. Es ist dieselbe Hand, die vor vielen Jahren ein Menschenleben beendete.

 

Selbstjustiz und die Frage nach Gerechtigkeit. Bislang gehörte dieses Thema für mich zu jenen, die mir unbegreiflich scheinen. So unbegreiflich, dass es ihm nie ganz gelang, die Grenze zu meinem Bewusstsein zu überwinden. Es war da und irgendwie auch nicht. Ein Zustand, in dem es sehr einfach ist zu urteilen, vor allem deshalb, weil Angst blind macht und lähmt. Und diese selbstgezogene Grenze war nichts anderes als genau das – meine Antwort auf Angst. Gewiss bin ich damit nicht allein. Auch wenn Krimis, Nachrichten und Horrorfilme das Wort und die Idee Mord zu einem immer wieder aufflackernden Gegenstand unserer Gedanken machen, so wird es doch immer etwas sein, dessen Endgültigkeit einen dumpfen, tauben Nachgeschmack hinterlässt. Und für die meisten Menschen niemals Realität wird.

„Nein. Ich bereue nichts.“ Chaim Miller gibt seine Antwort ruhig, fest und ohne zu zögern. Ich möchte aus Gewohnheit die Grenze ziehen und mein stilles Urteil sprechen. Doch ich kann nicht. Auch wenn meine Meinung unerschütterlich ist und es immer bleiben wird, muss ich erkennen, dass Meinung nicht gleichzusetzen ist mit Urteil. Und es steht mir nicht zu, über fremde Leben zu urteilen. Fremde Leben, deren dunkelste Schatten so schwarz sind, dass ich mich darin verlaufen würde. Niemandem steht das zu.

Und so verliert meine Meinung, dass Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten ist, dass Wasser auf Mühlen diese niemals stoppen wird, an Gewicht. Meine leise unbedeutende Meinung verliert während Chaim Millers Geschichte das Gewicht, von dem ich mir eingebildet hatte, es wiege etwas.

 

Bevor wir beantworten, ob es diese Situation gibt, in der Mensch über Leben und Tod entscheiden darf, bevor wir das Wort morden in den Mund nehmen, sollten wir uns selbst einen Moment Zeit schenken, in dem wir fragen: Und ich? Was erlaubt mir den Glauben, etwas darüber zu wissen?

Denn letzten Endes hat Frieden zu leben mehr mit versuchtem Verständnis gemein, als mit Überzeugung zu urteilen.

 

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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