Der Drahtseilakt des Überlebens

Kultur & Events
Sarah Emminger / 21.01.2021
Circus Louis Knie Junior in Linz 2021

Reportage und Fotos von Sarah Emminger

Ein kalter Dezembervormittag im Lockdown light. Der Himmel über der Linzer Industriezeile ist bewölkt, nur vereinzelte Sonnenstrahlen erreichen die Kinder, die am Skateplatz Tricks üben. Normalerweise macht sich hinter ihnen eine große Wiese auf, aber seit Mitte November hat der Circus Louis Knie von Louis Knie Junior hier seine Zelte aufgeschlagen. Mit dem Konzept eines Weihnachtszirkus im Gepäck ist die Karawane nach nur drei Vorstellungstagen und dem erneuten Veranstaltungsstopp von Villach hergekommen. „Wir wollten unsere Hoffnung für den Winter noch nicht aufgeben“, sagt Zirkusdirektor Louis Knie. Jetzt sitzt er mit 30 von ursprünglich 60 Mitarbeitern hier fest und wartet auf den Saisonstart. Wann der sein wird, weiß niemand.

„Wir wollen nicht mehr betteln müssen“

Im Laufe des Tages besuchen viele Leute das Zirkusgelände. Die einen aus Neugier, die anderen zum Helfen. Erst am Vortag sendete der ORF einen Spendenaufruf, dem heute einige Linzer folgen. Mit einem müden Lächeln steht Knie selbst am Eingangstor und nimmt Geld, Tierfutter und Essen für seine Mitarbeiter entgegen. Seine Bewegungen sind träge und tiefe Ringe zeichnen sich unter den Augen ab. Beim Sprechen überschlagen sich seine Wörter manchmal, er kann sich schwer konzentrieren. Wie so oft in letzter Zeit, hat er eine schlaflose Nacht hinter sich. Es ist nicht einfach für ihn, auf Spenden angewiesen zu sein. „Wir wollen nicht mehr betteln müssen, sondern endlich wieder auftreten“, sagt er.

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Finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates gab es bislang keine, denn Zirkusse werden nicht als Kulturgüter eingestuft und haben daher keinen Anspruch auf Gelder aus dem Hilfsfonds.  Es handelt sich beim Circus Knie zwar nicht um einen österreichischen Betrieb, aber die Regelung ist in den meisten Ländern Europas gleich.

Mit nur 21 Spieltagen in zwölf Monaten musste die Reisegesellschaft herbe Verluste einfahren. In normalen Jahren macht Knie etwa eine Million Euro Umsatz. Heuer sind es 80 Prozent weniger, mit denen er Mitarbeiter, Tierfutter und Betriebskosten zahlen muss. Dass das Zirkusleben hart sein kann, weiß der Direktor schon lange. Man kann es nicht mit einem normalen Job vergleichen. Geregelte Arbeitszeiten oder Krankenstand gibt es nicht. „Wenn es uns schlecht geht, reißen wir uns zusammen, nehmen ein paar Tabletten und treten auch mal mit Fieber auf“, erzählt er.

Als Vertreter der siebten Generation seiner Zirkusfamilie kennt und kann er nichts anderes. Er wuchs in der Schweiz auf und lernte bei seinem Vater. Mit zwei Jahren hatte er seinen ersten Auftritt. In einer Tasche versteckt, trug ein Elefant ihn in die Manege. Der machte mit seinem Rüssel den Reißverschluss auf und Knie sprang als kleiner Tarzan heraus. Beim Gedanken daran muss er heute, 43 Jahre später, lächeln. Seit damals hat sich vieles geändert. Wildtiere wurden im Zirkus verboten. Licht- und Tontechnik spielen eine größere Rolle. Man findet kaum mehr gute Stellplätze. Außerdem sind die Leute durch aufwendige Filmproduktionen verwöhnt und schwieriger zu unterhalten.

Starker Zusammenhalt

Nach einer Weile wird Knie von einer Mitarbeiterin am Eingang abgelöst. Es ist Zeit, sich für die Pferdeproben vorzubereiten. An diesem Tag ist ein Fernsehteam da, um einen Beitrag über den Zirkus zu drehen. Im Hauptzelt befindet sich bis auf ein paar Mitarbeiter und Journalisten niemand. Die heitere Musik der Pferdeshow wird bereits getestet und wirkt im leeren Raum fast ironisch. Ansonsten sieht alles wie immer aus, in einer halben Stunde könnte das Zelt aufgeheizt und die Show gestartet werden. Nur das Publikum fehlt.

„Komisch sieht das aus, oder?“, fragt Diego. Gedankenverloren schaut er den Scheinwerfern dabei zu, wie sie Muster auf den Boden der Manege malen. Draußen hört man Hunde bellen und Leute reden. Der Hochseilartist sitzt auf einem Publikumsplatz, die Hände stützen den müden Kopf. Normalerweise würde er gerade bei der Vormittagsshow auftreten. Auch er ist schon lange beim Zirkus. Mit 13 begann er, in seinem Heimatland Kolumbien zu performen. Die dortige finanzielle Lage trieb ihn nach Europa, wo er jetzt mit einem Kindheitsfreund auf dem „Todesrad“ auftritt - eine Nummer, bei der jeder kleine Fehler einen Unfall verursachen kann. Seit er vor ein paar Jahren bei einem Training abgestürzt ist, nimmt er dieses Risiko ernster. Wann genau das passiert ist, hat er verdrängt. Er will nicht jedes Jahr am gleichen Tag daran denken müssen.

Gemeinsam mit seiner Frau übte Diego damals eine schwierige Luftnummer, bei der sie sich nur an Tüchern festhielten. Die beiden rutschten ab. Diego schlug hart am Boden auf und brach sich einen Arm und zwölf Wirbel. Beinahe wäre es das Genick gewesen. Seine Frau kam mit glimpflichen Verletzungen davon, er verbrachte danach vier Monate im Bett. Das schlimmste waren aber nicht die Brüche, sondern die Angst um seinen Sohn. „Er war damals vier, als wir ins Krankenhaus mussten und ihn beim Zirkus zurückließen. Was, wenn er beide Eltern auf einen Schlag verloren hätte?“, fragt er mit stockender Stimme. Seitdem treten seine Frau und er nicht mehr zusammen auf. Sie lebt mit dem Sohn in Prag, der geht dort zur Schule. Diego sieht die beiden nur in den Sommerferien, aber so ist es ihm lieber: „Als Artisten aufzuhören war für uns keine Option. So verliert unser Sohn nur einen von uns, wenn ein schlimmer Unfall passiert.“

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Das Schönste an seinem Leben beim Zirkus ist für Diego der Zusammenhalt. „Wir sind eine richtige Familie“, erzählt er und lächelt dabei.

Besonders gespürt hat er das in der Zeit des Unfalls. Kollegen kümmerten sich um seinen Sohn, während er es nicht konnte. In Krisenzeiten helfen alle zusammen, auch jetzt. „Wenn jemand etwas zu essen hat und ein anderer nicht, wird geteilt. Das ist der große Vorteil am Zirkus, man ist nie allein“, sagt Diego. Langeweile gibt es selten, nicht mal während des Lockdowns. Ständig laufen Mitarbeiter vorbei und sind auf der Suche nach Kollegen. Oder das Telefon klingelt, so wie jetzt. Diego soll rauskommen, die Journalisten wollen ihn aufs Dach klettern sehen.

Harte Arbeit, wenig Anerkennung

Um das Zelt herum hat sich bereits eine Menschentraube gebildet. Alle warten auf Diego, der in wenigen Minuten auf dem Dach steht. Mit vier Kollegen posiert er dort und macht Verrenkungen für das Fernsehteam. „Es sieht so einfach aus, aber das ist es nicht“, sagt Nicole. Sie beobachtet Diego und die anderen kopfschüttelnd.

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Die 18-jährige Artistin Nicole findet es unfair, dass Zirkusartisten so wenig Anerkennung bekommen.

Schließlich trainieren sie jahrelang für ihre Nummern und belasten ihre Körper damit erheblich. Sie selbst hat mit fünf Jahren begonnen, sich ihre Hula-Hoop-Show aufzubauen. Als Zirkuskind war sie viel unterwegs und lernte beim bekannten Zirkus Moulin Rouge in Paris von den Besten. Das meiste hat ihr aber ihr Vater beigebracht – Mario Berousek, der schnellste Jongleur der Welt.

Doch egal, wie bekannt Zirkusartisten sind – staatliche Hilfe bekommt in der Corona-Krise fast keiner von ihnen. Nicole fühlt sich von der Politik nicht ernstgenommen, auch ihre Familie erhält vom Herkunftsland Tschechien keinen Cent. „Mein Papa hat als Künstler viel erreicht, was nicht viele Tschechen geschafft haben, und trotzdem bekommt er nichts“, sagt sie.

circus-louis-knie-jr-foto-sarah-emminger-jugendportal.jpgNachdem die Journalisten genug Aufnahmen von Diego und den anderen gemacht haben, bitten sie Nicole um eine kleine Vorführung. Sie nickt und geht ins Zelt, um sich aufzuwärmen. Während sie ihre Arme und Fußgelenke langsam kreisen lässt, blickt sie nachdenklich auf den Boden. Die Reporter kommen und fragen Nicole, was sie denn kann. So einiges. Sie schlüpft aus dem weiten Pulli und der Jogginghose, unter der sie einen knappen, rot-schwarzen Turnanzug und eine Netzstrumpfhose trägt. Im Zelt ist es eiskalt, aber das lässt sie sich nicht anmerken. Mit einem breiten Lächeln für die Kamera schwingt sie ihren Hula-Hoop-Reifen in die Höhe und macht einen Überschlag, noch bevor er wieder runterkommt und sie ihn auffängt.

Auch wenn sie schon mit 18 Jahren Rückenprobleme hat und sich oft mehr Wertschätzung wünschen würde, kann Nicole sich kein anderes Leben vorstellen. Jemandem, der schon als Kind mit Kamelen gespielt und am Morgen von Elefantenrüsseln geweckt wurde, wäre alles andere einfach zu langweilig. Daran, dass Zirkusse durch diese Krise aussterben könnten, denkt sie nicht. Es wäre für die gesamte Familie katastrophal.

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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