Erinnerst du dich an die Wärme?

Leben
Maren Michl / 12.12.2017
Katzenspuren im Schnee und eine rote Christbaumkugel

Es ist kalt. Erinnerst du dich noch an letztes Jahr? Da war es auch kalt, aber nicht für mich. Sie hat mir eine rote Schleife um den Hals gebunden und mich unter den Baum gesetzt. Noch Tage danach hatte ich die Tannennadeln in meinem getigerten Fell. Es war laut und hell, die vielen Lichter haben sich in meinen ängstlich aufgerissenen Augen gespiegelt. Aber dann hast du mich hochgehoben, raus aus dem Lärm und dem hellen Licht, hast die Schleife abgemacht und mich gestreichelt. Erinnerst du dich an mein Schnurren?

Ich war noch so klein und ungeschickt, sie hat mich immer geschimpft wenn ich vergessen hatte wo das Katzenklo steht. Aber du hast mich nie geschimpft, du hast mir einen Namen gegeben und mich nachts heimlich in deinem Bett schlafen lassen. Da war es warm.

Als ich größer war durfte ich raus. Wir haben Abenteuer erlebt, sind durch den Garten getobt, bis sie dich gerufen hat damit du für die Schule lernst. In den Sommerferien habt ihr euch gestritten, sie wollte wegfahren, aber du konntest mich nicht allein lassen. Die Nachbarin, die auf mich aufgepasst hat, war schon alt, bei ihr roch es immer nach Orangen, aber es war warm.

Du hattest keine Zeit mehr nach den Sommerferien, musstest immer lernen, um im Gymnasium mitzukommen. Deine drei Bücher aus der Volksschule wurden durch 10 neue ersetzt. Sie lagen auf dem Schreibtisch, dort wo ich immer gesessen und dir zugesehen hatte. Also legte ich mich unter den Tisch neben deine Füße, wenigstens war es warm.

Mit der Zeit wurde es kälter, nicht nur draußen wo die Blätter bereits am Boden lagen, auch im Haus, wo du nichts mit mir machen wolltest. Ich bin herumgesprungen, wollte spielen wie früher, aber sie hat mich gescholten weil die Vorhänge rissen. Deine Zimmertür blieb nachts zu, also schlief ich unten neben der Heizung, da war es warm.

An dem Tag hast du eine schlechte Note geschrieben, sie meinte ich würde dich vom Lernen abhalten. Danach hat sie mich mit ins Auto genommen, ich war aufgeregt, vielleicht würden wir wieder ein Abenteuer erleben. Du hast mich hinter den Ohren gekrault, ich saß auf deinem Schoß, beobachtete wie hinter dem Fenster die Welt vorbeiflog. Mir war zum letzten Mal warm.

Erinnerst du dich noch? Das Auto ist längt weggefahren, sie haben mich wohl vergessen. Wann kommst du wieder? Verzweifelt renne ich kreuz und quer, in meinem Fell hängen Tannennadeln, um meinen Hals hat sich eine Plastiktüte gewickelt, mit der ich spielen wollte. Meine Augen sind ängstlich aufgerissen, aber es gibt nichts mehr was sich darin spiegeln könnte. Mir ist kalt. Bitte lass mich nicht allein. Es ist doch bald Weihnachten.

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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