Hilfe in der Hilflosigkeit

Leben
Anonym / 11.11.2020
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Einsamkeit

Was konstante Angst mit der Psyche macht, warum wir überhaupt so fühlen und wie wir mit diesen Emotionen umgehen können

Teil 1: Ein Einblick in das Innenleben während der Pandemie mit Psychotherapeutin Mag. Katja Isele

Lockdown Nummer 2

Am 3. November ist in Österreich ein Teil-Lockdown in Kraft getreten. Gastronomie, Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen müssen bis Ende des Monats schließen. Veranstaltungen werden abgesagt und touristische Nächtigungen untersagt. Anders als beim ersten Lockdown im März, bleiben Industrie, Wirtschaft, persönliche Dienstleistungen, Schulen und Kindergärten sowie Handel geöffnet. 

Es ist das zweite Mal, dass wir das erleben. Das zweite Mal, an dem wir zu Hause bleiben. Das zweite Mal, wo wir für das Wohlbefinden der Allgemeinheit den Kürzeren ziehen. Allein bleiben, diesmal sogar mit einer Ausgangsperre ab 20 Uhr.

Doch was macht dieses „alleine sein“ eigentlich mit einem? Wie wirkt sich konstante Ungewissheit auf uns aus? Und wie finden wir, trotz unabsehbarem Ende dieser Pandemie, Ruhe?

Angst

Auf Instagram bat ich meine FollowerInnen mit einem Wort ihre Gefühlslage wiederzugeben. Die Antworten waren belastend, aber nicht überraschend. Verzweiflung, Untergang, Aussichtslosigkeit, innere Unruhe, Ungewissheit, Beklemmung, Frustration, Wut und Angst sind die Adjektive, die meine AbonnentInnen mit der jetzigen Situation in Verbindung bringen. Zusammengefasst: Alle fühlen sich extrem unsicher.

„Angst ist ein Grundgefühl, wir besitzen sie alle und brauchen sie zum Überleben, wir sprechen also von einem instinktiven Schutzmechanismus“, sagt die Psychotherapeutin und Pädagogin Katja Isele. Bei Panikattacken interpretiert unser Gehirn eine eigentlich „harmlose“ Situation falsch und zeigt Symptome des „Flight or Fight“ Syndroms. Wir bekommen Herzrasen, Schweißausbrüche, uns überfällt ein Gefühl von lähmender Atemlosigkeit, während wir doch nur im Wohnzimmer sitzen.

Zwischen dem 15. und dem 26. Mai 2020 hatte das Gallup-Institut, im Auftrag der Sigmund-Freud-Universität, 1.000 Menschen online interviewt. 40 Prozent der Befragten äußerten Zukunftsängste, 27 Prozent berichteten sogar von generalisierter Ängstlichkeit, einem klassischen Anzeichen von Angststörungen. (Quelle: Der Standard, 25.9.2020)

Doch von wo kommt diese Panik?

Laut Isele erfüllt uns die derzeitige Situation mit Furcht, da wir keinen Maßstab nach ihr richten können. Die Covid-19 Pandemie „hört nicht auf“, beziehungsweise ist kein konkretes Ende absehbar. Diese Art von Ungewissheit stresst uns extrem, da wir mit ständiger Veränderung konfrontiert sind. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir brauchen Struktur und Routine – ständig neue Anpassung, durch neu auferlegte Regelungen, bringt uns aus dem Konzept. Sie verunsichert uns. Schließlich kann man sich beim Absprung nicht entspannen. Auch, wenn man bereits seit Stunden fällt.

Muss ich auf die Nachhilfe meiner Kinder verzichten? Oder werde ich in Kürze wieder arbeiten können? Wie sieht es mit der Studienbeihilfe aus? Muss ich zurück nachhause? Werden meine FreundInnen und ich uns auseinanderleben? Wird es je wieder „normal“ werden? Und, und, und. Zu viele offene Fragen mit denen sich gerade jeder und jede Einzelne von uns beschäftigt. Wenn wir uns ihnen voll hingeben, bleiben wir ohne befriedigende Antwort stehen. Nervöser und verunsicherter als davor.

Isele sprach auch von einer Art Machtlosigkeit, die uns überfällt. Durch Corona wird die Selbstbestimmung enorm eingeschränkt. Wir haben keine Entscheidung mehr über unseren Alltag, stattdessen müssen wir ihn nach den Vorgaben der Regierung richten. Einschränkungen in der Arbeit und im Bereich der sozialen Kontakte, die normalerweise Stresssituationen regulieren, sowie Entzug der Reisefreiheit, sind alles Maßnahmen, die neu für uns sind. Wir können nicht mehr zu unseren Familien, einen gemütlichen Abendspaziergang machen, oder für ein Wochenende wegfahren.  

Diese Form des Kontrollverlusts erhöht die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Essstörungen. Selbstbestimmung wird bei einem selbst gesucht, weswegen man beispielsweise anfängt sein Essverhalten zu disziplinieren, um den Anschein von „Kontrolle“ und „Macht“ zu bewahren, oder verfällt aus jeglichen Strukturen – gibt sich der Schwebe, in der wir uns befinden, vollends hin, wird passiv – niedergeschlagen von all der Kraftlosigkeit.  

Verdrängung

Zwischen all der Panik gibt es auch Momente, in denen uns alles egal ist. Zu Hause kann es schließlich ganz gemütlich sein. Doch wie ist es möglich, sich dauerhaft zwischen Fassungs- und Sorglosigkeit zu bewegen?

Mag. Katja Isele meint, dass diese Zustände der Verdrängung absolut lebensnotwenig sind. Sie unterscheiden sich von herkömmlicher Ignoranz, denn Verdrängung ist ein Überlebensmechanismus, Augen zu machen nicht. Dadurch, dass ein Thema im Geist tabuisiert und unterdrückt wird, können wir weiter machen, funktionieren. Wir kennen dieses Verhalten auch von kleinen Kinder. Diese weinen beispielsweise nie sofort, wenn sie hinfallen.

Gefährlich wird es jedoch dann, wenn das Unterdrücken über sein Ziel hinausschießt und wir immer mehr Zugang zu unseren Ängsten verlieren. Das kann nämlich dazu führen, dass sie uns alle auf einmal einholen. Es ist also wichtig zwischendurch mal an ganz andere Dinge zu denken, wir sind weder ignorant noch anderweitig „abnormal“, wenn wir nicht dauerhaft in einem bewusst angespannten Zustand sein können. Jedoch ist es auch wichtig, Sorgen Raum zu geben und darüber zu sprechen.

Teil 2: Wie gehen wir mit diesen Gefühlen um?

In den Medien wird man mit Tipps und Tricks zum Thema „selfcare“ bombardiert. Viel Gurkenwassser trinken, bisschen Yoga und vegane Süßigkeiten Rezepte, sollen der Schlüssel aus unserer Misere sein. Was sagt unsere Verhaltenstherapeutin dazu?

Den Zynismus mal beiseitegelegt, ist Selbstliebe/Selbspflege, generell ein guter Umgang mit sich, ein konkreter erster Schritt zu seelischer Ruhe in dieser unsicheren Zeit.

Psychotherapeutin Katja Isele schlägt diese Schritte vor, um nicht in Katastrophendenken zu geraten und um einen „kühlen Kopf“ zu bewahren...

1. Bewahre eine Struktur

  • Falls du StudentIn sein solltest, teile dir konkrete Lernzeiten ein.
  • Steh zur gewohnten Zeit auf, beschäftige dich dann mit den Vorlesungen, wie wenn sie in Präsenz stattgefunden hätten.
  • Iss so, wie du immer essen würdest.
  • Wenn die Motivation fehlt, bilde eine Online-Lerngruppe. Macht euch Uhrzeiten zum Lernen aus, dann fühlt man sich gleich verpflichteter.

2. Trenne deinen Arbeitsplatz

Sowohl als StudentIn, als auch als Mitglied der Arbeitswelt, ist es sehr wichtig seinen Arbeitsplatz vom Rest der Wohnung zu trennen. Es ist zwar sehr angenehm im Bett zu lernen, aber kann auch dazu führen, dass man sich nicht entspannen kann, wenn alle Lichter aus sind.

3. Informiere dich

Das mag jetzt auf den ersten Blick absurd klingen, weil das Verfolgen der Medien einen oftmals nervös macht. Doch wie Baruch de Spinoza, ein Philosoph des 17. Jahrhunderts, sagte: „Erkenntnis ist der einzige Weg zu wahrem Glück“. Mit „informieren“ sind nicht nur dramatische Eilmeldungen gemeint. Todeszahlen, Lockdownfristen etc., sondern auch das Erarbeiten von Fragen wie: Was ist eine Pandemie? Wie sind Generationen vor uns damit umgegangen? Wie haben vergangene Generationen auf große wirtschaftliche Veränderungen reagiert? Wie sieht unsere Zukunft aus? Ist sie wirklich so düster? Oder können wir kreative Wege finden, mit der neuen Situation umzugehen?

Kurzgefasst: Es ist wichtig sich über die Zahlen zu informieren, aber bitte mit Pausen! Sonst gerät man sehr schnell in eine Art Katastrophendenken. Außerdem sollte man sich nicht nur mit einseitiger Information auseinandersetzen.

4. Soziales Netz

Grundsätzlich ist es ja nicht verboten, Personen von zwei Haushalten zu besuchen. Wenn man tatsächlich ganz allein ist, sollte man sich ein soziales Netz mit zwei FreundInnen suchen, die man regelmäßig trifft (und sonst niemanden, versteht sich).

Sei kreativ. Skype Filmabend oder doch nur Telefonieren? Wichtig ist, dass man sich austauscht, über Gefühle und Gedanken spricht, gehört wird.

5. Bewegung

Lieber Leser, liebe Leserin, ich weiß: Du wirst jetzt wahrscheinlich mit den Augen rollen. Doch es ist leider so, Bewegung wird immer eine Rolle spielen! Es ist egal, ob man ein Home-Workout macht, einmal um den Block geht, oder Purzelbäume durch die Wohnung schlägt. Wichtig ist, dass wir uns bewegen. Das Nervensystem wird dadurch stimuliert, Glückshormone werden ausgeschüttet, man kann sich besser konzentrieren und so weiter, aber das ist uns ja ohnehin bewusst.

6. Sei nett zu dir

Es ist eine schwierige Zeit. Sind wir mal bitte ganz ehrlich: Keiner von uns wird diszipliniert lernen, jeden Tag mit FreundInnen telefonieren, um 22:00 schlafen gehen und keine Mitternachtssnacks verschlingen, aber das ist OKAY. Die Welt bricht aus den Fugen. Natürlich können wir nicht perfekt sein, unser Leben gewohnt weiterleben, aber wir können, trotz all der schwierigen Herausforderungen, versuchen weiterzumachen. Und wenn das an einem Tag nicht klappt, sollte man sich nicht dafür geißeln, sondern Verständnis für sich selbst aufbringen können.  Die Welt ist schon gemein genug zu uns, wir müssen es nicht auch noch sein.

Die Corona Pandemie setzt uns unter Druck.
Sie erschafft neue Strukturen und macht andere wieder kaputt.
Es ist wichtig uns selbst und andere, so gut es geht, zu unterstützen.
Wenn die Welt schon in die Brüche geht, müssen wir nicht mit ihr zerfallen, stattdessen können wir anfangen die Scherben aufzuheben.

 

Youth Reporter-Artikel zum Thema Coronavirus / COVID-19:

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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