Die Identitätsfrage

Youth Reporter in Israel
Lizanne Daniel / 21.11.2017
Störer: 
Jerusalem

Was bedeutet Identität?

Israel ist Brennpunkt, Schmelztiegel und Heimat zugleich. Und eigentlich ist es noch viel mehr als das. Die Reise in ein solches Land wirft viele Fragen auf, aber die eine kehrt immer wieder zurück ins Zentrum. Die Frage danach, was wir sind oder wer wir sein wollen. Was wir zu sein versuchen oder was wir sein müssen.

Diese Frage wälzt sich durch Israels Gassen, wartet zwischen orientalischen Gewürzen und bunten Armbändern, verdampft in der heißen Mittagssonne. Manchmal ist sie arabisch, ihre Antwort hebräisch, manchmal ist sie hebräisch und ihre Antwort deutsch. Wir stellten sie österreichischen Israelis und israelischen ÖsterreicherInnen. Und jede Antwort war eine Antwort und gleichzeitig wieder eine Frage für sich.

Diese Frage zu stellen ist also vielleicht wie ein Labyrinth zu betreten und zwischen Behauptungen und Vermutungen umherzuirren, stets von dem trügerischen Gefühl begleitet, die Klarheit hinter der nächsten Mauer anzutreffen, nur um immer und immer wieder Sackgassen ohne Ende einzuschlagen.

Und dennoch oder gerade deswegen ist es so wichtig, diese Frage zu stellen. Es ist keine gewöhnliche Frage, deren Antwort sich nachschlagen lässt, deren Antwort uns LehrerInnen, Eltern oder Wikipedia geben können. Der einzige Mensch, an den wir diese Frage richten dürfen, sind wir selbst.

Und nun, da dies bewusst wurde, die Startlinie gezogen und der Blick fokussiert ist, nun beginnt sie erst - die eigentliche Schwierigkeit. Wo fängt man an zu suchen, wenn Unwissenheit und Leere im Dunkeln tappen lassen? Wenn alles so vage scheint, dass sich Dschungel von Wüste nicht unterscheiden lässt?

Am besten direkt vor unserer Nase und ganz von vorn.

Wenn wir diese blinde Karte betrachten mit ihren schwarzen unergründlichen Ozeanen, mit Millionen von Fragezeichen als Inseln im Wasser, dann erkennen wir auch ein Gebiet, das mit festen geraden Strichen schraffiert ist. Es ist die Stadt, die keiner Forschung bedarf, denn sie wurde aus einer Tatsache gebaut, die keinen Zweifel duldet: Ein Organismus mag noch so vollkommen gezeichnet, so detailreich und fein gebaut sein, im Vakuum ist er tot. Erst der Sauerstoff, der unsere Lungen füllt, füllt auch unsere Körper mit Leben. Es ist das einfache Prinzip der Abhängigkeit, und so ist es auch mit Identität und Existenz – sie sind aneinander gekettet. Verbrüdert für die kurze Ewigkeit eines Lebens.

Das heißt, Identität ist und ist sie nicht mehr, sind auch wir nicht mehr. Das ist wichtig, denn um Farben, Formen, Beschaffenheiten zu nennen, muss zuerst das Objekt definiert werden. Das Nichts hat kein Gesicht und ist ein Aggregatszustand für sich.

Am Beginn unserer Reise haben wir festgestellt, dass die Identitätsfrage kein physikalisches Gesetz, keine chemische Formel und keine Grammatikregel ist, auf die es eine richtige und tausend falsche Antworten gibt. Sie kann nicht pauschal beantwortet werden. Es ist daher logisch und unvermeidlich, dass es sowohl zeitlich als auch räumlich eine Stelle gibt, an der sich unsere Wege trennen. Und selbst wenn es manchmal so scheinen mag, bei keinem einzigen unserer Schritte, nicht bei einem einzigen Atemzug, sind wir allein. Jede der 7,5 Milliarden Seelen in unserer Welt stellt sich dieselbe Frage - unabhängig von Nationalität, Glaube, Alter und Geschlecht.

7,5 Milliarden Antworten, keine ist richtig, keine ist falsch. Der einzige leise lauernde Fehler, der zu einer Antwort führt, die vielleicht nicht falsch, aber dennoch in ihrer Richtigkeit getrübt ist, ist der Fehler, keine Antwort zu finden. Ein Fehler, der in seiner Offensichtlichkeit lachhaft, realitätsfremd, bei den Haaren herbeigezogen scheint? Warum, frage ich mich, warum verbringen wir dann so weite Strecken unseres Weges erinnernd, planend, zögernd und träumend? Warum erfinden wir so viele Dinge, die zu erledigen sind, bevor wir Zeit haben, zu existieren? Wir können unsere Zukunft zeichnen, bauen, ausmalen. Wir können sie nach unseren Wünschen kreieren, doch sie wird genau das immer bleiben: eine Kreation. Gleiches gilt für Schwester Vergangenheit. Und Mutter Gegenwart? Ja, die Gegenwart wird nicht gewünscht und nicht geplant, sie muss gelebt werden. Und hoffentlich ersetzen wir muss irgendwann mit darf und erkennen das Geschenk, das sie ist.

Um den Kreis zu schließen, den Bogen zu Ende zu spannen: Identität und Existenz sind aneinander gekettet, und Existenz ist gegenwärtig. Der Fehler ist also die Annahme, dass unsere Antwort in der Zukunft zu finden ist, denn das macht sie unerreichbar.

Nun, wo wäre der Sinn meiner Ausführung, wenn ich nicht nach all dem versuchen würde, einen Anhaltspunkt, eine Orientierung, einen Wegweiser zum Gipfelkreuz zu beschreiben?

Unsere Antwort, unsere Identität, sie geht morgens mit der Sonne auf und legt sich abends mit uns schlafen, und mit jedem neuen Tag bricht eine neue Möglichkeit an, sie zu finden. In Worten, Gedanken oder Gefühlen. Jedenfalls aber in uns.

 

Zwei einfache Dinge also: leben und fragen, fragen und leben. Und irgendwann kommt der Tag, an dem wir plötzlich vor dem Ausgang stehen und das Labyrinth mit der Erkenntnis auf den Lippen für immer verlassen.

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