Erasmus in Antwerpen: eine Studentin berichtet

Wissen
Zulla Ahmetovic / 25.09.2018
Antwerpen

In Wien aufzuwachsen und in linken Kreisen politisch sozialisiert worden zu sein bedeutet, eine gewisse Skepsis gegenüber Schärpen in sich zu tragen. Vor allem wenn es sich um StudentInnenverbindungen handelt, die Schärpen tragen. Ziemlich schockierend sind dann auch die ersten paar Wochen am Campus der Universität Antwerpen oder Parties, auf denen StudentInnen mit genau solchen Schärpen rumlaufen. Umso erleichternd ist dann die Erkenntnis, dass die StudentInnenklubs in Antwerpen (zumindest die meisten von ihnen) nicht mit den rechten Burschenschaften in Österreich zu vergleichen sind.

Studentenleven [leven der studenten aan der universiteit]

Studentenklubs sind fester Bestandteil im Alltag eines studierenden Menschen in Antwerpen. So gut wie jede Studienrichtung hat ihren eigenen StudentInnenklub. Diese StudentInnenklubs agieren nicht politisch, das heißt es geht nicht darum, als Interessensvertretung für die StudentInnen der jeweiligen Studienrichtung zu dienen. Für Erstsemestrige wollen sie eine Hilfe dabei sein, sich am jeweiligen Campus und beim Studieren generell, leichter zurechtzufinden. Zudem sehen sich die Verbindungen auch als eine Network-Plattform von StudentInnen, für StudentInnen, mit StudentInnen. Im Laufe eines akademischen Jahres veranstalten die StudentInnenverbindungen zahlreiche Parties, Veranstaltungen, wie etwa Jobmessen, aber auch europäische Städtetrips. Um Mitglied zu werden, zahlt mensch einen Jahresbeitrag von maximal 15€ (ist von Klub zu Klub unterschiedlich), um jedoch eine Schärpe tragen zu dürfen, da muss Energie und Zeit reingesteckt werden.

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Studienrichtungsübergreifende Klubs hat Antwerpen auch zu bieten: eine Gruppe, in der nur Frauen Mitglied sein dürfen und einen LGBTIQ+ freundlichen Club: die Flamingos.

Antwerpener StudentInnenkultur

Am Anfang des ersten Semesters, noch bevor der ganze Unistress richtig beginnt, nutzen die verschiedenen Klubs die Möglichkeit, Erstsemestrige für sich zu gewinnen, indem sie Parties veranstalten, auf denen mensch sich ein erstes Bild vom Klub und den angebotenen Aktivitäten machen kann. Das Ziel für die StudentInnenverbindungen an solchen Abenden am Beginn eines jeden akademischen Jahres ist einerseits, Mitgliedskarten und Goodies an den studierenden Menschen zu bringen, aber auch Ausschau nach denen zu halten, die Interesse daran zeigen, Teil des Präsidiums des Klubs, also eines der höheren Mitglieder, zu werden. Es sind nämlich die höheren Mitglieder eines StudentInnenklubs, die die imposanten Schärpen, mit den jeweiligen Farben und dem Wappen der eigenen Verbindung, tragen dürfen. Es hat schon seine Vorteile Präsidiumsmitglied zu sein, denn in all den Bars und Clubs der Stadt, die die StudentInnenverbindung als SponsorInnen für sich gewinnen konnte, bekommt ein Mitglied mit Schärpe Getränke aufs Haus und freien Eintritt zu Events. Außerdem bringt das Tragen einer Schärpe, das damit einhergehende Repräsentieren eines StudentInnenklubs, Popularität mit sich.

StudentInnenclubs haben eine lange Tradition in ganz Belgien. Die Regeln der Klubs sind dem StudentInnenkodex zu entnehmen. Jeder Klub haltet sich an diesen Kodex und idealerweise sollte jedes Mitglied ein eigenes Exemplar des Kodex erwerben. In dem Kodex finden sich ein Verzeichnis aller StudentInnenverbindungen in jeder Gemeinde in Belgien, Anweisungen und Erklärungen für diejenigen, die Präsidiumsmitglieder werden wollen, sowie viele traditionelle StudentInnenlieder, die auf einem Cantus gesungen werden.

Wenn es etwas gibt, dass ganz typisch belgisch ist, dann ist das der Cantus, bei dem es im Endeffekt darum geht zusammenzukommen, viel Bier zu trinken (oder nicht-alkoholische Getränke für jene, die keinen Alkohol zu sich nehmen wollen/dürfen) und StudentInnenlieder zu singen. Cantusse sind so ein großer Bestandteil der Antwerpener StudentInnenkultur - eins dieser Events, zu denen mensch einfach hingeht, nur um es einmal erlebt zu haben.

„Doop“ – die Einweihung der neuen Mitglieder

Teil des Präsidiums zu sein bedeutet, sich um die organisatorische und finanzielle Arbeit eines StudentInnenklubs zu kümmern. Um Teil des Präsidiums und zu den schärpentragenden Menschen der studierenden Community in Antwerpen zu gehören, muss mensch viel Zeit investieren und sollte eine dicke Haut haben. Zunächst verpflichtet sich das potenzielle Präsidiumsmitglied den Regeln des StudentInnenkodex. Grundsätzlich geht es hierbei darum, sich dem StudentInnenklub, also sowohl dem Präsidium, als auch den anderen Mitgliedern gegenüber, respektvoll und loyal zu verhalten.

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Nachdem sich eine Gruppe Menschen gefunden hat, die sich dem StudentInnenkodex verpflichten wollen, werden diese Menschen im Rahmen einer ‚Auktion‘ an Präsidiumsmitglieder sozusagen „verkauft“. Sprich, die Präsidiumsmenschen greifen dann wirklich in die eigene Tasche, um sich ein neues Mitglied zu „kaufen“.

Hinterfragt wird diese Prozedur wenig, was vor allem wenn mensch Belgiens gewaltvoll-imperiale Vergangenheit bedenkt, äußerst fragwürdig ist. In Gesprächen finden einige, dass der Vergleich mit Belgien als Kolonialherrschaft und den Traditionen der StudentInnenklubs nicht passend ist. Das erinnert mich an die Diskussionen rund um den Schwarzen Peter, eine weitere Tradition in Belgien. Rund um Weihnachten herum gibt es in Belgien, und auch in den Niederlanden, den Brauch, sich nicht nur als Nikolaus, sondern auch als Schwarzer Peter zu verkleiden – ein mit schwarzer Farbe übermaltes Gesicht, mit starkem Rot betonte Lippen, einer Perücke mit schwarzen, dichten Locken, die stark an einen Affro erinnert, auffälligem Ohrenschmuck und dabei die Attitüde eines Schow-Affen, das die Aufgabe hat zu entertainen und sich zum Gespött zu machen. Auch hier scheint es selbst jungen Menschen schwer, sich kritisch mit typisch „belgischen“ Traditionen und wo diese herkommen, zu beschäftigen.

Um jedoch auf die Einweihung neuer Mitglieder in die Antwerpener StudentInnenklubs zurückzukommen: Für eine Woche fungiert die Präsidiumsperson dann als MentorIn oder besser gesagt, ‚MeisterIn‘ des neuen Mitglieds. Das Mitglied wird zu allen möglichen Parties mitgenommen und wird auch in den Alltag des Präsidiummitglieds integriert, um in möglichst kurzer Zeit viele Menschen an der Universität kennenzulernen, um sich so ein eigenes soziales Netzwerk aufbauen zu können. Im Laufe dieser Woche, verpflichtet sich das Mitglied aber auch dazu, für den Präsidiumsmenschen zu putzen, zu kochen und manchmal auch, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Viele MentorInnen mögen es zum Beispiel, wenn ihr gekauftes Mitglied auf den Knien am Boden sitzt, wenn es mit in eine Bar oder auf eine Party genommen wird. In Antwerpen weiß so gut wie jede/r StudentIn, über die Einweihungswoche der StudentInnenklubs Bescheid, und wenn da jemand auf den Knien und auf den Boden schauend in der Bar hockt, dann ist das auch nochmal eine öffentliche Zurschaustellung der Position, in der sich das Mitglied befindet.

Am Ende der Woche findet dann die richtige Einweihung, der „doop“, statt. Alle gekauften Mitglieder und das Präsidium kommen zusammen. Die „Gekauften“ sind verkleidet, je nachdem welches Motto sich das Präsidium dafür ausgedacht hat, und haben Kleidung an, die sie am Ende ganz weghauen können. Der „Doop“, die Einweihung der neuen Mitglieder, ist nämlich eine ziemlich dreckige Angelegenheit. Die Präsidiumsmenschen nutzen nochmal die Chance, die neuen Mitglieder richtig hart ran zu nehmen, sie herum zu scheuchen, anzuschreien. Im Laufe der 4 Stunden offizieller Einweihung wird viel Alkohol getrunken (oder Wasser für die nichts alkoholisches zu sich nehmen), die Newbies werden etwa mit viel zu viel Knoblauch gefüttert, mit Essen beworfen und viel Flüssigem übergossen. Nun gilt es für die neuen Mitglieder zusammenzuhalten und das Ganze solidarisch miteinander durchzustehen. Am Ende des „Doops“ sind die neuen Mitglieder ihrem Ziel, Teil des Präsidiums ihres Studentenklubs zu werden, ein Stück näher gekommen und werden mit ihrer eigenen Schärpe belohnt. Die ist natürlich nicht so imposant wie die Schärpe der eigentlichen Präsidiumsmitglieder und auch viel schmäler. Um die 12 cm breite Präsidiumsschärpe tragen zu dürfen, muss ein neues Mitglied mindesten bis zum nächsten Jahr warten. Während des akademischen Jahres werden die frischgebackenen quasi SchärpenträgerInnen in die Organisation des StudentInnenklubs Stück für Stück miteinbezogen, bis sich dann herauskristallisiert, wer welchen Präsidiumspart übernehmen wird, wenn sich das aktuelle Präsidium auflöst und die Jüngeren übernehmen lässt. Natürlich gibt es nicht für die ganze Gruppe einen Präsidiumsplatz, und für die eine und den anderen stellt sich auch heraus, dass das Präsidium vielleicht doch nichts für einen ist, jedoch die Identifizierung mit dem StudentInnenklub dennoch sehr stark ist. Das sind dann die „Commilitonnes“ eines Klubs. Am Ende des akademischen Jahres findet dann noch das „Ontgroening“ statt. Bei dieser Zeremonie kommen Präsidium und Mitglieder erneut zusammen und die Schärpen der neuen Mitglieder werden von der linken Schulter auf die rechte gedreht, was symbolisieren soll, dass es sich bei dieser Gruppen nicht mehr um Frischlinge handelt, sondern vollwertige Mitglieder.

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Der Prozess der Einweihung klingt sehr hart. Und das ist er auch. Und nicht alle in Antwerpen sind begeistert von den StudentInnenverbindungen. In der Vergangenheit sind einige Klubs mit ihren Einweihungen und Mutproben ein Stück zu weit gegangen, was sogar schon zu Todesfällen von Erstsemestrigen geführt hat. Ein belgischer Film, der sich mit genau dem Thema auseinandersetzt, ist „Ad fundum“ von Erick van Looy. Deswegen müssen die StudentInnenclubs und die neuen Mitglieder eines jeden StudentInnenklubs einen Vertrag mit der Stadt Antwerpen eingehen, der besagt, dass im Zuge der Einweihung in der Stadt Antwerpen nichts zerstört werden darf und dass die Sicherheit der neuen Mitglieder gesichert ist. Aus diesem Grund hat jeder Klub auch eine/n „Schaachtenmeester“, also eine Person, die sich um das Wohlergehen der neuen Mitglieder kümmert und auch die erste Ansprechperson ist, wenn sich mensch mit seinen MentorInnen und ihren Anweisungen nicht wohlfühlt.

Einige StudentInnenklubs haben sich dazu entschieden, die traditionelle Einweihung ganz wegzulassen, und allen, die die Mitgliedskarte des Klubs erwerben, die Möglichkeit zu geben, Teil des Präsidiums zu werden. Sie haben eingesehen, dass Erstsemestrige bei ihrem Einstieg in das StudentInnenleben unterstützt werden können, ohne dabei schikaniert zu werden. Andere Klubs lassen die Auktion am Anfang weg und halten nur die eigentliche Einweihung, den „Doop“, ab. Dann gibt es wieder Klubs, in denen die Einweihung 2 Wochen mit inbegriffenen zwei Tagen „Doop“ organisiert wird. Die ganz harten Vereinigungen versuchen sogar, dem Vertrag mit der Stadt zu entgehen, indem sie ihre Einweihungen außerhalb der Stadt abhalten. Es gibt Klubs, die mit ihren neuen Mitgliedern sehr freundlich umgehen, dann wieder andere, in denen diese, bis sie den Status vollwertiger Mitglieder nicht erreicht haben, ziemlich schlecht behandelt werden.

Survival Guide For Pledges

Als Erasmusstudentin war ich bei der Auktion der Flamingos (des LGBTIQ – StudentInnenklubs der Stadt Antwerpen) ein heißbegehrtes Exemplar. Für insgesamt 130€ ging ich an 6 ehemalige Präsidiumsmitglieder. Ab diesem Abend habe ich viel Zeit am Boden auf meinen Knien verbracht. Zudem habe ich in der Wohnung von einer meiner MeisterInnen putzen müssen und einmal auch ein Abendessen für all meine MeisterInnen kochen müssen. Außerdem haben mich meine „KäuferInnen“ überteuerte Shots und Süßigkeiten verkaufen geschickt, um möglichst viel von dem Betrag, den sie für mich ausgegeben haben, wieder einzunehmen. Tatsächlich ist es mir gelungen, den vollen Betrag einzutreiben. Betrunkene StudentInnen kaufen wirklich alles. In der Öffentlichkeit hatte ich Kommandos auszuführen. Bei 1 musste ich einen enthusiastischen Hula-Hula Tanz aufführen. Bei 2 musste ich am Boden ein imaginäres Baby gebären und das mit sehr viel „schmerzerfülltem“ Schreien. Bei 3 musste ich mit einem Baum intim werden, bei 4 demselben Baum meine Liebe gestehen. Bei 5 hatte ich mich auf die Knie fallen zu lassen, und lautstark zu singen.

Was mir in meiner Einweihungswoche sehr geholfen hat: mitspielen. Meine MeisterInnen sind sehr oft aus der Rolle gefallen, um mich zu fragen, ob es mir gut geht und ich noch Spaß an der Einweihungswoche hätte. Beim Spielen der leidenden „gekauften“ Person habe ich meine MeisterInnen oft dazu zwingen müssen, ihre menschliche Seite zu zeigen. Andererseits habe ich aber auch großes Interesse an den Aktivitäten des StudentInnenklubs und meinen Aufgaben in der Einweihungswoche gezeigt, was natürlich zu viel Sympathie vonseiten meiner MeisterInnen geführt hat. Eine große Hilfe war auch Alkohol. Nicht für mich, ich trinke nämlich gar nicht. Sondern das Abfüllen meiner MeisterInnen hat dazu geführt, dass sie ihre Rollen gänzlich fallen ließen und ich sie so auch auf einer persönlichen Ebene sehr gut habe kennenlernen können.

Das Essentiellste war aber die Unterstützung der anderen neuen Mitglieder, die mich sofort herzlich aufgenommen und unterstützt haben. Die Einweihung gemeinsam durchzustehen, war für viele Mitglieder der Beginn vieler, heute tiefer, Freundschaften.

Für mich persönlich war das Beitreten bei den Flamingos die perfekte Möglichkeit in Kontakt mit flämischen StudentInnen zu kommen und einen spannenden Bericht darüber zu verfassen. Wenn ich an die Einweihung zurückdenke, dann muss ich zugeben, dass ich in dem Ganzen eine Art Spiel gesehen habe, das Spaß gemacht hat. Was in diesen Eineinhalb Wochen als „pledge“ spürbar verloren ging, war die kritische Auseinandersetzung damit. Erst als ich meine Erlebnisse in dem StudentInnenklub Antwerpens mit meinen FreundInnen und anderen (Erasmus)StudentInnen, die nichts mit diesem Teil des Antwerpener StudentInnenlebens zu tun hatten, teilte und ihre geschockten Reaktionen sah, wurde mir klar wie unhinterfragt ich mein StudentInnenklub-Erlebnis nach einer Weile angegangen bin.

Ob ich mir vorstellen könnte, dass sich Wien etwas von der Antwerpener StudentInnenkultur abschaut? Eher nicht! Wien steht nämlich nicht so auf Schärpen.

 

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 16.04.2024 bearbeitet.

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