Tahere

Engagement
Lizanne Daniel / 29.09.2017
Tahere und Lizanne

Schon oft hatte ich das Gefühl, Blicke aus hellen Augen leichter deuten zu können und seit ich denken kann, sind Telefonate die mit Abstand meist verhassten Pflichten des Alltags.

Träumen, Soja-Latte und Telefonate als Herausforderung – das hört sich zweifellos nach einer behüteten Kindheit und sorglosen Jugendjahren an. Wenn meine Mutter vor dem Fernseher heute gedankenverloren und aus Gewohnheit die Hand vor meine Augen und damit zwischen Krimivorschau und ihre Tochter schiebt, dann sind es zweierlei Reaktionen, die sich in mir aufbäumen. Der eine Teil denkt mit einem nachsichtigen Lächeln an das kleine Mädchen, das den leisesten Anflug von Angst und Schrecken, manchmal selbst den Hauch einer Unstimmigkeit zum Anlass nahm, eine Serie schlafloser Nächte und verschämt gemurmelter „Ich kann nicht schlafen“-Statements folgen zu lassen - von der Allgemeinheit stets mit resigniertem Seufzen hingenommen. Gleichzeitig muss sich der andere Teil das dumpfe Gefühl verletzten Stolzes eingestehen, wenn er sich augenblicklich vehement gegen das Bild meines jüngeren Ichs zu wehren beginnt.

Und dann ist da noch jener Rest Gewissen, der sich schulbewusst einringelt, wenn ich merke, die letzten Minuten wieder einmal durch Konzentration und Sinn hindurch tiefe Löcher in den Bildschirm gestarrt zu haben, Stimmen zu einer monotonen Geräuschkulisse verschwimmend – letzten Endes nur ein weiterer Beweis für das als Selbstverständlichkeit hingenommene Gefühl der Sicherheit, in der ich mich bisher mein ganzes Leben lang zu wiegen wusste.

Und das alles wäre eine Geschichte getaucht in völlig andere Farben, versehen mit anderen Ecken und anderen Abrundungen, würde ich nicht auf eine behütete Kindheit und sorglose Jugendjahre zurückblicken. Es wäre ein fremder Geschmack auf der Zunge, eine fremde Tonlage auf meinen Stimmbändern und fremdes Volumen in meiner Lunge, würde ich sie erzählen, diese fremde Geschichte. Taheres Geschichte.

Tahere ist Afghanin. Sie lebt seit vergangenem März in Österreich und spricht sehr gut deutsch. Ihr größter Wunsch? Lernen zu dürfen. Ihr größter Traum? Chemikantin zu sein. Und obwohl ihre Augen von einem so dunklen, wunderschönen und tröstend warmen Braun sind, dass sich Pupille von Iris kaum unterscheiden lässt, hatte ich vom ersten Moment an das Gefühl, in ein offenes Buch zu blicken. In der Mitte aufgeschlagen, eine vertrauensvolle Einladung, die Seiten zu wenden.

Tahere ist verheiratet. Sie ist 24, ihre älteste Tochter ist 8.

Während sie erzählt, hält sie manchmal inne und sieht mich aus ihren großen braunen Augen erstaunt an: Warum fragst du nicht? Ich zögere dann mit meiner Antwort, versuche vergebens, den Kloß in meinem Hals zu besiegen und antworte leise: Willst du denn darüber sprechen? Ob sie merkt, dass meine Stimme zittert? Ich weiß es nicht.

Tahere lacht nur. Es ist meinem eigenen Lachen nicht unähnlich und das macht mich auf eigenartige Weise glücklich. Ich dürfe alles fragen.

Es gibt mir einen Stich, als ich merke, dass bei ihren Worten etwas in mir zerbricht, während sie immer noch ganz ist. Sie, in deren Leben es eine Zeit gab, in der es nicht bloß Worte waren, sondern gelebte Wirklichkeit.

Eigentlich haben Tahere und ich uns in diesem Raum im WIFI Braunau getroffen, weil ich ihr helfen möchte, für die Geschichteprüfung zu lernen. Tahere macht den Pflichtschulabschluss, Deutsch hat sie bereits bestanden. Dass wir jetzt, zwei Stunden nachdem wir uns mit drei Küssen – links, rechts, links nach afghanischer Tradition – begrüßt haben, zusammensitzen, zuhören, lachen und staunend von der Geschichte der anderen kosten, das haben wir wohl beide nicht erwartet.

Tahere ist heute eine Frau, die um ihre Rechte weiß und sich traut dafür zu kämpfen. Eine Frau, die sie alle kennt, die Ungerechtigkeiten und Brutalitäten dieser Welt. Eine Frau, die Dinge erlebt hat, von denen sich mein Verstand weigert, sie zu begreifen, und deren Lachen dem meinem ähnelt.

Würde ich auf die Frage nach meiner Nationalität nicht Österreich, sondern Afghanistan antworten, würde ich über meinen Glauben sprechend statt Bibel Koran sagen, meine Bücher von hinten nach vorne lesen und meine Sätze von rechts nach links schreiben. Würde ich auf Persisch grüßen und mich auf Persisch bedanken. Würde ich mit einem Mann zusammenleben, der für mich ausgesucht wurde, den ich nicht liebe und den meine Kinder Vater nennen, obwohl ich es selbst doch noch bin. Ein Kind.

Vielleicht wären es dann dunkle Augen, deren Blicke mir vertrauter schienen.

 

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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