Über grünen Stolz – und weshalb es Zeit ist, ihn abzulegen

Politik
Mona Harfmann / 06.11.2019
Hand, die ein Schild mit der Aufschrift "We don´t have time" darauf

Seit Wochen stehen die Grünen in Sondierungsgesprächen mit der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Langsam scheint die Möglichkeit einer Koalition der beiden Parteien immer wahrscheinlicher – Zweifel gibt es dennoch genug. Ein Plädoyer, diese abzulegen – und was das mit grünem Stolz zu tun hat.

Langsam kommt wieder Ruhe in Österreichs Politlandschaft. Nach einem Skandal mit dem klingenden Namen #ibizagate, der passenderweise nicht nur Ex-Parteiobmann Heinz-Christian Strache, sondern auch die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) in der Regierung zu Zwangsurlaub mit ungewissem Ende verdonnert hat, schien im vergangenen halben Jahr kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben. Wobei es doch mittlerweile beinahe wie Routine anmuten müsste, wenn der wiedererwählte Bundeskanzler Sebastian Kurz eine Regierung auflöst. Weniger Routine stellte jedoch der kurz darauf folgende, angenommene Misstrauensantrag der Regierung an. Ein bisschen wie ein unheimlicher „Süßes sonst gibt’s Saures!“-Umzug sah das aus, als man im Fernsehen Pamela Rendi-Wagner mit finsterem Gesicht vor der Kamera stehen sah, mitten in der Nacht. Mit dem (temporären) Parlament im Hintergrund fühlten sich sentimentale Genossinnen und Genossen möglicherweise gar an eine Zeit erinnert, in der in der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) tatsächlich Revolutionen ausgefochten wurden, die nicht auf das Stürzen von eigenen Parteimitgliedern abzielten. Was kurz darauf folgte, kam so etwas wie einer Revolution tatsächlich nahe – ein von der Regierung abgewählter Kanzler. In der gesamten Geschichte der zweiten österreichischen Republik war bis dato kein einziger von über hundert Misstrauensanträgen jemals angenommen worden. Ein historischer Tag für die Republik, könnte man fast sagen.

Grün ist zurück: Kommen, siegen, zweifeln

Es kam, wie es kommen musste. Bei den Neuwahlen im Oktober wurde der abgewählte Kanzler wiedergewählt, und die Partei, die all das Tohuwabohu in Österreichs Politik ausgelöst hatte, von ihrer Wählerschaft sanktioniert: 16,2% für die Freiheitlichen, also über 9 Prozentpunkte Verlust und somit kein Auftrag der Regierungsbildung mehr.

Aber es kam auch, wie es nicht zu erwarten war: Die Grünen erreichten ein Wahlergebnis von 13,9%. Die Partei, die vor gerade einmal zwei Jahren aus dem Nationalrat geflogen war, weil sie die Vier-Prozent-Hürde nicht erreichte, kam damit tatsächlich als Koalitionspartner für den großen Sieger des Tages, der 37,5% starken ÖVP, infrage. Eigentlich ein Grund zum Feiern, möchte man meinen. Aber warum feiern, wenn man auch zweifeln kann?

Eine Zusammenarbeit mit der ÖVP „zeichne sich überhaupt nicht ab“, erklärte Grünen-Chef Werner Kogler kurz nach der Bekanntgabe der Wahl-Ergebnisse. Der österreichische Grünen-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Michael Ramon, meinte im Gespräch mit dem Südwestfunk, sie orientierten sich ganz an FDP-Chef Christian Lindner und seinem Motto: „Besser nicht regieren, als schlecht regieren.“ Und ORF-Allzweckwaffe und Politologe Peter Filzmeier erklärte, eine Koalition zwischen ÖVP- und Grünen-Wählerschaft sei schwierig, da beide Wählergruppen jeweils nichts von einer Koalition mit der anderen Partei hielten.

Worum geht es hier eigentlich?

Das könnte sich so manch ein/e überzeugte Klimaschützer/in an dieser Stelle tatsächlich fragen. Geht es darum, die ideale Person zu finden, um mit ihr den Bund der Ehe für immer abzuschließen? Der oder die überzeugte Klimaschützer/in könnte an dieser Stelle antworten: Nein. Hier geht es um etwas ganz anderes, etwas viel wichtigeres, das eventuell bedeutet, jegliche Aversionen gegen die „türkise Schnöseltruppe“ (Copyright Werner Kogler) abzulegen und das große Ganze zu betrachten. Die ÖVP ist vielleicht nicht der ideale Partner, aber wird aus diesem Grund eine Koalition kategorisch ausgeschlossen, bedeutete das nicht nur, eine große Chance nicht wahrzunehmen, sondern auch das Negieren von Verantwortung.  Der Umwelt gegenüber, all den Schülerinnen und Schülern gegenüber, die Freitag für Freitag streiken gehen, den Zukunftsgenerationen gegenüber, denen wir umweltfreundliche Reformen schuldig sind. Ja, gut möglich, dass nicht alle Herzens-Projekte der Grünen dabei umgesetzt werden können. Sehr gut möglich, dass es sich bei diesen Umsetzungen nicht um die Hälfte oder ein Viertel, sondern nur ein Sechstel handeln wird. Aber ist nicht auch ein Sechstel klimaverträglicher Reform besser als 100% klimaunverträglicher Reform? Und sollte es den Grünen nicht ein Anliegen sein, eine neue Regierung, in der nichts für die Umwelt getan wird, um jeden Preis zu vereiteln – auch wenn das bedeutet, einen Regierungspartner an seiner Seite zu haben, den man ideologisch nicht mit den eigenen Werten in Einklang zu bringen vermag?

Liebe Grüne-Politikerinnen und Politiker, Wählerinnen und Wähler – es wird Zeit. Zeit für weniger Idealismus und grünen Stolz. Zeit für Umweltschutz. Zeit für die Grünen – nicht außerhalb des Nationalrats, nicht bloß als Abgeordnete im Nationalrat, es wird Zeit für die Grünen als maßgebliche Gestalter der Republik Österreich – und darum Zeit zum Regieren.

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