WM-Boycott: Ein Opfer für den echten Fußball

Politik
Elias Bernhard / 31.03.2021
Bauarbeiter auf einer Baustelle

Ein Jahr des Verzichts

Wir sind hungrig. Hungrig nach grünem Rasen, dem runden Leder, Fangesänge und den gemeinsamen Ausbrüchen im Stadion. Nach den Emotionen, die nur ein Spiel in uns auslösen kann. Egal ob Wut auf den Schiedsrichter oder Beifall für einen einfachen Pass. Triumph oder Niederlage. Seit nun knapp fünf Monaten haben wir Amateurfußballer unsere Fußballschuhe nicht mehr geschnürt, sondern uns mit dem meist eh schon verhassten Lauf oder Krafttraining per Zoom zufriedengeben müssen. Ich kann und werde mich auch nie mit dem „Eli, Arsch weiter aufi“ aus dem Bildschirm anfreunden können. Zu sehr fehlt das bekannte drumherum was den Fußball so ausmacht.

Auch die Profis spielen seit einem Jahr, mit kurzer Ausnahme vor leeren Rängen. Bis auf ein paar Schmunzler und der Feststellung, dass es bei den Stars auch den rauen, teils asozialen Umgangston wie bei uns gibt, hat die Interimslösung nicht besonders viel gebracht. Anlässlich des ersten Geburtstages der Geisterspiele führte das deutsche Fußballmagazin Kicker Interviews mit den Betroffenen. Bei einem waren sich die Spieler, Trainer und Schiedsrichter einig. Auf einmal war ihr Auftreten im Stadium nur noch Arbeit. Wie gern würden die Fans jene Arbeit wieder auf sich nehmen. Auch dort fehlt die Emotion.

Die Doppelmoral des modernen Fußballs

Versteht mich nicht falsch. Der Fußball genießt ein Privileg, welches oft gerade von den Beteiligten selbst nicht gerne anerkannt wird. So wunderte sich etwa Bayern Münchens Vorstandsvorsitz Karl-Heinz Rummenigge, dass er für den Vorschlag, die Fußball-Profis der Bundesliga früher zu impfen sowie für den Antritt einer unwichtigen Reise nach Dubai einen Shitstorm erhielt. Fußball ist nicht das Wichtigste – das ist klar. Doch am Ende geht es um das einzigartige Fußballgefühl, welches seit einem Jahr am zwanghaft am Leben gehalten wird.

Das Gefühl ist der großen Masse zum Glück bekannt. Alle zwei bzw. alle vier Jahre wird im Sommer aus vielen der von der Fangemeinschaft bezeichneten „Hobbyfußballfans“ ein für die Zeit des Turniers „echter“ Fußballfan. Auf einmal sitzen andere Personen neben dir beim Public Viewing und sind nach zwei Bier mindestens genauso begeistert, wie man selbst es seit Jahren ist. Ganz egal ob Uruguay gegen Armenien spielt – in den Zeiten von Welt- bzw. Europameisterschaften ist jede Spielminute wichtig und aufregend. Die Kinder oder in meinen Fall auch die jungen Erwachsenen kleben schon Wochen davor die Gesichter der Stars in ihre Panini-Sammelhefte. JedeR ist plötzlich zum Experten mutiert und hat zu allem eine fachkundige Meinung. Aber nicht in einem toxischen Gegeneinander wie in der jetzigen Corona-Pandemie, sondern in einer gemeinsamen Euphorie. Denn man wird im Tippspiel den FreundInnen schon zeigen warum Nordirland gegen Rumänien keine Chance hat.

Lange konnte ich den Fußball mit diesem Gefühl im Hinterkopf gegen die Vorwürfe der rigorosen Gehälter, den Werbeverträgen und Ticketpreisen verteidigen. Die gesamte Unverhältnismäßigkeit artet Jahr für Jahr weiter aus und wird ab dem ersten Pfiff des Schiedsrichters weiter verdrängt. Leider stößt meine Doppelmoral jetzt an ihre Grenzen.

Katastrophe in Katar

Die Qualifikation zur jener Fußball-Weltmeisterschaft in Katar, dessen Termin es nie hätte geben dürfen, haben vergangene Woche begonnen. Seit knapp 11 Jahren wissen wir schon von diesem Turnier. 11 Jahre lang war uns bewusst, dass jenes Event nichts mit der Ideologie der Fans und der Spieler gemein hat. Innerhalb von nur 28 Tagen anstatt der üblichen 31 Tage sollen alle Spiele über die Bühne gehen. Das große Finale findet am 4. Adventsonntag, den 18 Dezember 2022 statt. 

Aus dem sonst bekannten „Sommermärchen“ wird eine „Wintergruselgeschichte“. Glühwein statt Bier. Der Fanschal nun erstmals mit echter Funktion auf der Fanmeile. Diese lästigen Umstände lassen sich schnell mit einem Lächeln abtun, aber die eigentliche Katastrophe ist eine humane.

Laut einem Bericht der englischen Tageszeitung The Guardian starben bereits 6.500 Menschen auf den Baustellen der Stadien, die danach nie wieder eine Rolle spielen werden.

Tausende SklavInnen aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka und offiziell „ArbeitsmigrantInnen“ genannt, schuften bis zum Tod für ein Event, welches fast keiner so wollte. Die FIFA (Fédération Internationale de Football) weist die Korruptionsvorwürfe im Abstimmungsverfahren zurück und appelliert an die Expansion des Fußballs in Ländern, in denen er noch nicht so einen großen Stellenwert habe. 

Ob der Fußball in dieser Form in einem Land, in dem homosexuellen Menschen verfolgt werden und Menschenrechte eine Nebenrolle spielen, Fuß fassen soll, ist die andere Frage. Katars Regierugspressestelle verweist darauf, dass es auf Großbaustellen immer zu Unfällen käme und so etwas nicht zu vermeiden wäre. Duzende Videos aus den Behausungen der Arbeiter zeigen anderes.

Warum die Arbeiter und Organisationen sich nicht wehren? „Die vorhandenen Kontrollsysteme sind nich geeignet, um Missbrauch festzustellen und es bleibt schwierig für Arbeiterinnen und Arbeiter, sich zu beschweren, ohne dadurch ihr Einkommen und ihren rechtlichen Status aufs Spiel zu setzen“ sagt Steve Cockburn, Leiter des Bereichs wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit bei Amnesty International.

Jetzt Handeln bevor es zu spät ist!

Glücklicherweise besteht der Fußball nicht nur aus einer korrupten FIFA und reichen Interessenvertretern, sondern auch aus kleineren Verbänden und Fangemeinschaften. In Norwegen debattiert der Verband gerade über einen Boykott der WM und nimmt damit eine im Verhältnis zur Antrittsprämie von ca. 8 Mio. US-Dollar (Stand WM 2018) geringe Geldstrafe von 20.000 Schweizer Franken (umgerechnet etwa 21.200 Dollar) vor bzw. 40.000 nach Beginn des Qualifikationsbewerbes in Kauf.

Bedeutender für alle Verbände wäre allerdings der Ausschluss aus den nächsten zwei FIFA-Wettbewerben. In jenem Fall die Frauen-WM 2023 und die Männer-WM 2026. Auch in Deutschland werden die Stimmen zum Thema Boykott lauter. Zwar nicht der Verband, aber das Fanbündnis ProFans fordert den Deutschen Fußball-Bund (DFB) zum Boykott auf.

Am konsequentesten hat sicher aber eine Firma aus den Niederlanden verhalten. Der Sportrasenhersteller Hendriks Graszoden verweigert seine Lieferungen. Jene Firma stellte bereits 2006 den Weltmeisterrasen. Hoffen wir das Großsponsoren à la McDonalds, Coca-Cola und Heineken noch folgen werden. Nicht nur moralisch, sondern auch marketingtechnisch lauert hier eine Chance für die Big Player. In Österreich hält man sich bisweilen leider bedeckt.

So sehr ich mich über die bisherigen Boykotts freue und sie für richtig halte, schleicht sich leider die nötige Doppelmoral des modernen Fußballfans wieder ein. Will ich wirklich nicht mit Österreich in der Qualifikation leiden? Will ich wirklich nicht jeden Tag mir drei Spiele anschauen, auch wenn es Dezember ist? Will ich nicht endlich den genannten Hunger nach einer WM-Endrunde stillen?

Natürlich gibt es am Ende, auch wenn es schwer fällt, auf alle diese Fragen nur eine Antwort: Ja, ich muss und will auf eine solche WM verzichten, um der Welt, aber vor allem der Fußballgemeinde zu zeigen, dass es doch Grenzen gibt.

Grenzen, die schon lange vorher hätten gezogen werden müssen. Die Kommerzialisierung mag den Fußball groß gemacht haben, aber in den jetzt noch leeren Rängen sollen keine Profiteure einer WM sitzen, die auf einem Fundament von tausenden Leichen steht. In den Rängen sitzen oder (optimalerweise) stehen Menschen, die ein solches Debakel nicht mehr unterstützen wollen. Wenn Verbände, Unternehmen und Fans die Chance jetzt nicht ergreifen, um ihren jahrelang aufgestauten Unmut, über die katastrophale Situation zu zeigen, wird sich der Teufelskreis immer weiterdrehen. Jetzt muss der echte Fußball stark sein und endlich nach vielen Jahren Doppelmoral eine harte Kante zeigen.

Quellen und weiterführende Links

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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