Boys don't cry - Wie uns Geschlechterrollen psychisch krank machen

Leben
Anonym / 13.01.2021
Lena Heiß / 13.01.2021
Boys don't cry?

Der Konflikt

Wir sind jetzt modern. Frauen tragen keine BH´s mehr, fühlen sich nicht verpflichtet, ihre Beine zu rasieren, nehmen hohe berufliche Stellungen ein, Essen wird bestellt und auch Papa kann heutzutage zu Hause bleiben, sich die Nägel lackieren und mit angezündeten Räucherstäbchen auf dem Balkon sitzen, während die Maske einwirkt, ohne auch nur minimal an seiner Männlichkeit zweifeln zu müssen. Eigentlich haben wir es geschafft! Das größte Übel liegt hinter uns und auf dem Weg führt ein großes Schild in Richtung „Gleichberechtigung“. Stimmt. Wir haben viele Hindernisse überwunden, doch wie immer bleibt ein unterschätzter Bereich auf der Strecke liegen: Die Psyche.

Wir tragen zwar selbstbewusst einen Kampf aus, brechen Klischees, doch vergessen dabei die Narben, die der harte Prozess hinterlassen hat. Die Gesellschaft wurde offener dafür, was die „Rahmenbedingungen“ von einem Mann und einer Frau sein „sollten“ , beziehungsweise stellen überhaupt in Frage, ob es sowas wie „Bedingungen/Qualifikationen“ für Männlichkeit und Weiblichkeit geben muss, was aber lange nicht bedeutet, dass sich alle Anforderungen, die wir in früher an Geschlechter gestellt haben, in Luft auflösen.

Was ich damit sagen will ist, dass wir nicht leugnen können, dass die Spuren der Vergangenheit, Dreck in unserer Zukunft hinterlassen und all die Zwänge, Erwartungen und unausgesprochenen Verpflichtungen, die wir an Frauen und Männer gestellt haben, noch leise in unserem Unterbewusstsein sitzen, unbeweglich drin hocken und sich nur dann rühren, wenn sie von neuen Gesellschaftsnormen zum Kampf aufgefordert werden.

Ein treffendes Beispiel für so ein mentales Duell wäre die Entstigmatisierung des Spruchs: „Boys don´t cry!”, ich denke wir alle können einvernehmlich beschließen, dass das ein absolut blöder Satz ist. Von einem Mann wird heutzutage erwartet, seinen Gefühlen Raum zu geben, sensibel zu sein. Seine „weiche“ Seite rauszulassen. Nicht nur das Rollenbild der Frau hat sich entwickelt, sondern auch das der Männer. In den 20ern haben wir unter einem perfekten Mann jemanden verstanden, der das Geld nach Hause, bringt, und so für seine Familie sorgt. Die Identität des Mannes wurde an Leistungen festgemacht.

Heute hat der „dreamboy“ zerraufte Haare, die ihm dramatisch ins Gesicht fallen, schreibt Gedichte und redet über seine Ängste und Träume - er ist einfach Timothée Chalamet. Okay, vielleicht ist das auch einfach nur mein Traummann… Jedenfalls ist es schon richtig, dass wir die Begriffe „Stärke“, „Erfolg“ und „Resilienz“ nicht mehr ausschließlich mit Männern in Verbindung bringen. Und, dass Wörter wie „Emotionalität“, „Sensibilität“ und „Zärtlichkeit“ nicht mehr nur auf Frauen zutreffen müssen. Doch irgendwie… ist genau das, das Problem und die Lösung zugleich.

Die Wahrheit ist nämlich, dass ein Mann ruhig „emotional“ sein darf, aber dennoch unterschwellig von ihm verlangt wird „stark“ zu sein und seine Gefühle unter Kontrolle zu haben, wenn es brenzlich wird. Genauso wie Frauen selbstständig, emanzipiert, und erfolgreich sein müssen, dennoch von ihnen erwartet wird, dass sie eine Familie gründen wollen und den „wärmeren“ Part einer Beziehung darstellen, verurteilt werden, wenn sie Hausfrauen sein möchten und umso härter verachtet werden, wenn sie kein Kind in die Welt setzen wollen. Warum das so ist und in was für ein psychisches Dilemma das Menschen werfen kann, sind Fragen die wir uns langsam stellen müssen.

Illustration: Lena Heiss / instagram.com/lol1dc

Selbst ist die Frau

Dadurch, dass die Frauen außerhäuslich berufstätig geworden sind, hat die traditionelle Rolle des Vaters als „Familienoberhaupt“ im Laufe der Zeit weniger Bedeutung zugeteilt bekommen. Durch die Individualisierungsprozesse der Frau in den 60er Jahren haben die altmodischen Geschlechterrollen an Geltung verloren. Heutzutage gilt es als selbstverständlich, dass Mädchen genauso wie Jungs eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten. Gleichzeitig wird von dem modernen Mädchen erwartet, sich spätestens nach dem ersten Kind um die Familie zu kümmern. Frauen stehen dadurch im Zusammenhang mit ihrer Identitätsbildung vor einer doppelten Aufgabe: Sie müssen sich einerseits als selbstständige Individuen entwickeln und andererseits die Verantwortung für die Familienidentität aufrechterhalten.

Die Auseinandersetzung mit diesem Thema stellt einen oft vor das zuvor beschriebene Identitätsproblem. In der heutigen Gesellschaft wird von Frauen erwartet, dass sie intelligent, schön und gepflegt sind, aber nicht viel Zeit in ihr Äußeres investieren, hart im Nehmen sind, sich durchsetzen, dennoch empathisch und sensibel mit ihren Mitmenschen umgehen. Dadurch orientieren sie sich an den von der Gesellschaft vorgegebenen Leitbildern, wie zum Beispiel dem herrschenden Schönheitsideal einer schlanken Frau oder den starken Leistungsanforderungen.

Ablehnung der Weiblichkeit und dessen Auswirkungen

Jungs werden dazu aufgefordert, zu ihren Emotionen zu stehen und Mädchen dazu ihre Weiblichkeit, beziehungsweise alles, was man mit Weiblichkeit in Verbindung bringt, abzulehnen. Sich für menschliche Bedürfnisse zu schämen und „geshamed“ zu werden. Begriffe wie „needy“, „übersensibel“ fallen mit starker negativen Behaftung in den Raum, weil es eben nicht „trendy“ ist emotional zu sein, vor allem nicht als Frau im 21. Jahrhundert. Plötzlich bedeutet „eine starke Frau“ sein, eben: Mehr „wie ein Mann“ sein. Ich weiß, dass ich mich mit dieser Aussage weit aus dem Fenster lehne, man die Begriffe „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ sowieso in Frage stellen muss, sowie „Gender“ generell. Doch lasst mich durch ein Beispiel aus der Literatur verdeutlichen, was ich versuche zu sagen:

In Schillers Drama „Maria Stuart“ fühlt sich Elisabeth (eine der Hauptrollen) dazu gezwungen ihre Weiblichkeit abzulegen, um ihren Thron, und so ihre politische Macht, in einer Männerwelt zu behaupten. Vor allem wird ihre Königsmacht von einer anderen Frau bedroht- Maria Stuart. Diese hat ihren Anspruch auf Englands Regentschaft angemeldet und ist daher im Tower von London eingekerkert. Zwischen diesen beiden starken Frauen existiert nicht nur ein Wettkampf um die Herrschaft von England, sondern auch eine Debatte darüber wer die schönere von beiden sei.

„Ich darf ja Mein Herz nicht fragen. Ach! Das hätte anders Gewählt. Und wie beneid ich andre Weiber, Die das erhören dürfen was sie lieben. […] Der Stuart ward’s vergönnt, Die Hand nach ihrer Neigung zu verschenken, Die hat sich jegliches erlaubt, sie hat Den vollen Kelch der Freuden ausgetrunken“

Elisabeth beneidet Maria um deren Weiblichkeit und die Freiheit ihrem Herzen zu folgen. Sie selbst möchte und muss zeigen, dass sie der männlichen Berufsethik in der patriarchalischen Öffentlichkeit gerecht werden kann, was der Grund ihres Bedauerns und der Grundkonflikt in ihrer Persönlichkeit ist. Um den Erwartungen an ihre Regentschaft gerecht zu werden, entledigt sie sich ihrer Weiblichkeit und ist daher auch nicht bereit eine traditionell weibliche Rolle darzustellen (Heirat, Kinder, ect). Warum Schiller immer weibliche Hauptcharaktere in den Vordergrund drängen muss, die sich in einem Identitätskonflikt befinden und daher (immer), als Ergebnis ihre Weiblichkeit Anlehnen, weiß ich auch nicht ganz…

Doch was Elisabeth bereits 1800 empfand, gilt bis heute: Nicht gut genug zu sein, wenn sie „weiblich“ ist. Beziehungsweise, als „schwach“ und als nicht kompetente Regentin/Chefin/Kollegin angesehen zu werden, wenn sie allen Gefühlen und Gedanken, Wünschen und Träumen nachgeht, die die Gesellschaft mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht hat! Psychische Leiden, die mittlerweile als Volkserkrankungen angesehen werden, wie Depressionen, Angst-oder Essstörungen, sind die Verdeutlichung dieses Bürgerkriegs im Kopf. Der Druck, den gesellschaftlichen Idealvorstellungen (erfolgreich, liebevoll, gleichzeitig unverwundbar sein) entsprechen zu müssen, ist hoch und führt bei vielen Mädchen zu einem negativen Körperbild und zu einem Gefühl der Unvollkommenheit.

Gekoppelt mit einem unsicheren Selbstbild kann diese Tatsache zu einer vermehrten Beschäftigung mit dem Körper und dem eigenen Essverhalten führen, was in einer Magersucht und/oder anderen psychischen Krankheiten, enden kann. Kontrolle, absolute Autonomie über den eigenen Körper simulieren Macht und Selbstständigkeit, erschaffen den Schein buchstäblich „seine Ecken und Kanten“ wegschleifen zu können. Wo hineinzupassen. Es finden Obsessionen mit verschiedensten Trends statt: „Tight Gap“, „Bikini Bridge“ und jetzt Kyle Jenners „hourglas“ Figur. Das ist nur einer der vielen Auswirkungen, die der Gesellschaftsdruck auf junge Mädchen -auf junge Menschen haben kann.

Die Unterdrückung der Frau tritt nicht mehr (so oft) in Formen wie Arbeitsverweigerung, Vorurteilen und anderen altmodischen Modellen auf. Sie Erscheint in Dynamiken, Beziehungsmustern, dem alltäglichen Austausch. Sie bewegt sich in einem Deckmantel und schlingt sich unter unsere Haut, bis wir uns plötzlich nicht mehr in ihr wohl fühlen- anfangen uns in Frage zu stellen.. Wir unterdrücken Frauen nicht mehr als Individuen (zumindest nicht mehr im selben Ausmaß) dafür verweigern wir alles, was mit Weiblichkeit zu tun hat.

Illustration: Lena Heiss / instagram.com/lol1dc

Toxic Masculinity

Toxic masculinity ist Englisch und bedeutet toxische, also schädliche Männlichkeit. Das Konzept beschreibt eine in unserer Gesellschaft vorherrschende Vorstellung von Männlichkeit und umfasst das Verhalten, das Selbstbild und Beziehungskonzepte von Männern sowie kollektive männliche Strukturen. Jungs „dürfen“ keine Schwäche zeigen, vielleicht noch Wut, sie sollen hart sein, aggressiv und nicht zärtlich oder liebevoll, schon gar nicht miteinander. Männlichkeit muss immer wieder bewiesen werden, zum Beispiel durch die Einordnung in eine Hierarchie, die mit Mutproben und erniedrigenden Ritualen gefestigt wird – auf dem Schulhof genauso wie in der Bundeswehr.

Das Institut für Suizidprävention in Graz veröffentlichte folgende Statistik: 2018 nahmen sich 1209 Menschen in Österreich das Leben. 950 davon waren männlich. Die Suizidrate für Männer ist 3,6 mal höher, als bei Frauen. Sich „Hilfe suchen“ ist nicht immer eine Option, weil das ja wiederum bedeuten würde sich „Schwäche“ eingestehen zu müssen. Durch die enormen Erwartungen unserer Leistungsgesellschaft und die Spannungen zwischen der Berufs- und der Familienrolle, suchen einige Männer nach Kompensationsmöglichkeiten. Diese zeigen sich zum Beispiel in einem erlebnisorientierten Freizeitverhalten, Drogenmissbrauch, Depressionen, gezügeltem Essverhalten, obsessives Muskeltraining oder eben Suizid. Sprüche wie „sei ein Mann“ oder „Jungs weinen nicht“ sind nicht besonders hilfreich und führen dazu, dass dieses Gedankengut weiterhin fortgetragen wird. Doch wie kommt es zu dieser krankhaften Erwartungshaltung?

Die Sackgasse

Heutzutage wird von Männern verlangt, dass sie genug Zeit für ihre Kinder und PartnerIn haben, Sport betreiben und fit sind, aber auch genug Geld für die Familie verdienen. In intimeren Beziehungen wird von Männern Einfühlungsvermögen und Sensibilität gefordert, beruflich sind es eher Eigenschaften wie Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen. Optimal wäre also eine Ausübung zwei ganz unterschiedlicher Verhaltensformen, eine Anforderung, der nicht einfach nachzukommen ist, vor allem, wenn man mit ganz anderen Ansprüchen aufwächst.

Während der frühen Kindheit können sich junge Männer noch mehr mit der Mutter identifizieren und nehmen dadurch weibliche Eigenschaften und Kompetenzen an. Bei der Suche nach der männlichen Identität rutschen Jungen dann in eine Art Zwickmühle: Sie sind gezwungen ihre weiblichen Anteile zu unterdrücken, da Mann-sein ja bedeutet, Nicht-Frau zu sein, also auch keine weiblichen Züge zu haben. Dadurch lernen junge Männer Aspekte an sich selbst zu verachten, da es ihnen von außen gesellschaftlich verwehrt wird.

Und genauso fängt das Dilemma an: Der Alltag der Kinder wird vor allem von Müttern, Erzieherinnen und Lehrerinnen gestaltet. Der männliche Anteil ist häufig unterrepräsentiert. Es fehlt an männlichen Vorbildern. Die männliche Geschlechtsidentifikation erfolgt dann durch eine Ablehnung und Distanzierung von weiblichen Geschlechtsmerkmalen und Verhaltensweisen. Nach diesem Modell ist der Mann „offiziell“ männlich. Und so kommt es zu der Sackgasse: Erst werden alle „weiblichen“ Eigenschaften mit Mühe, im Laufe des Erwachsen werdens, abgelehnt, aber dann wieder in Beziehungen, aber auch im Beruf (Kommunikationsskill, Kreativität, Teamfähigkeit, Mitgefühl) erwartet. Das Ergebnis: Enorme Identiätsprobleme.

Hast du dich schon mal gefragt...?

Wer das ganze Thema noch immer überflüssig findet, die Auswirkungen nicht sooo ernst nimmt und sich nicht betroffen fühlt, möchte ich folgende Fragen stellen:

Hast du dich jemals dafür geschämt, dass du unsicher bist, Bestätigung brauchst?
Denkst du, dass du mit einer gewissen Figur begehrenswerter, sogar mehr Wert, bist?
Generell: Wie wichtig ist dir ein Äußeres? Und wie offen gehst du damit um?
Kannst du mit deinen Freunden wirklich über alles reden? Nein? Warum nicht?
Hast du schon oft drüber nachgedacht dir psychische Hilfe zu suchen, es aber nie getan?

Wenn auch nur einer dieser Fragestellungen dich getroffen hat, dann tut es mir leid das sagen zu müssen, aber der Kampf für absolute Gleichberechtigung ist noch lange nicht zu Ende.

Fazit

Okay, wer es bis hierher geschafft hat verdient erst Mal Applaus. Wir mussten einen langen Weg gehen (oder lesen), um zu sehen, dass Geschlechterrollen noch immer einen Teil unseres Alltags einnehmen. Zwar nicht mehr so augenschlich wie früher, aber dennoch: Je „offener“ wir werden, desto höher steigen die Ansprüche, die wir aneinander stellen. Wie ein Stapel „Erwartungen“, der mit jedem versuch diesen zu brechen, nur wächst.

Wir müssen einen Ausgleich finden; einen Weg, dieser doppelten Identitätserhaltung zu entgehen und einfach wir selbst sein zu können. Ohne uns dabei Gedanken machen zu müssen, ob unser Verhalten in irgendeiner Art und Weise „schlecht“, „schwach“, oder „nicht gut genug“ für den Rest der Welt sei.

Ein Mädchen ist nicht weniger ernst zu nehmen, wenn sie Blumen mag, aber zugleich die Welt retten will. Ein Bub ist nicht schwach, nur, weil er mal heulen muss. Liegt wahre Stärke nicht eher darin, dass man zu sich und seinen Gefühlen steht, egal was andere davon halten? Ehrlich zu sich selbst zu sein, selbstbewusst seine Vorlieben und Neigungen auszuüben, auch, wenn diese rosa Einhörner beinhalten?

Stärke bedeutet, sich nicht schämen für das, was man ist. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger.

Quellen und weiterführende Links:

 

Text: Anonym
Illustrationen: Lena Heiß

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 26.04.2024 bearbeitet.

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