Ich poste, also bin ich: Virtuelle Selbstfindung im 21. Jahrhundert

Leben
Mona Harfmann / 12.04.2018
Instagram

Der Gedanke, dass wir Menschen rein anatomisch gesehen die gleiche Zunge, die gleichen Ohren und die gleichen Augen haben, dennoch aber verschiedene Dinge für besonders ansehnlich befinden und einen unterschiedlichen Essens- und Musikgeschmack haben, beschäftigt mich schon lange.

Genauer gesagt, seit dem ersten Mal Spinat im Kindergarten, meiner ersten AC/DC-Erfahrung und Picasso-Gemälden. Jeder Mensch ist unterschiedlich, von der Haarwurzel bis zu den Zehennägeln, und abgesehen von dem physischen Erscheinungsbild sind es bekanntlich vor allem unsere Charaktereigenschaften, die uns als Individuen definieren. Und Individuum zu sein, das ist vor allem jungen Menschen sehr wichtig - wir sind eine riesige Herde aus IndividualistInnen, ständig bemüht, uns in der Masse aus scheinbarer Gleichheit als besonders hervorzutun.

Du bist, was du postest

Kaum ein Ort wie das Internet eignet sich dafür besser – und lassen einen erkennen, wie eine Person sich offensichtlich wünscht, gesehen zu werden: Stilbewusst, sportlich, oder reisefreudig, und am besten alles gleichzeitig. Irgendwie besonders einzigartig und irgendwie auch nicht, weil alles, was am Anders-Sein cool ist, sofort von einer Welle globalisierter Nachahmungen massentauglich gemacht wird. Wie oft erwischt man sich dabei, ehrfürchtig den ästhetischen Feed einer offensichtlich in jeder Hinsicht selbstbewussten Person entlangzuscrollen und das eigene, unspektakuläre Selbst zu hinterfragen. Genauso sein zu wollen, wie dieses aufgeräumte Profil den Eindruck erweckt, ein Leben zu führen, dass nicht nur perfekt ist, sondern fotogen obendrein. Genauso, aber anders, und das soll auch jeder sehen und liken und kommentieren können, sonst ist es ja irgendwie nicht erfassbar, dieses Anders-Sein.

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Besonders für junge Menschen kann es sehr schwierig sein, den fein säuberlich konzipierten, individualistischen Scheinidentitäten weniger Bedeutung zu schenken, als ihnen tatsächlich von der eifrig postenden, Hashtag-setzenden Instagram-Community beigemessen wird. Dass diese künstliche Identität mit der echten kaum etwas zu tun hat und sich ihr ganzer Wert aus AbonnentInnen und Likes bezieht, verschwindet oft hinter einem Nebel aus farblich abgestimmten VSCO-Filtern.

Sicher, das als eine dystopische Neuheit des 21. Jahrhundert zu verunglimpfen ist nicht nur nicht originell, sondern gleichzeitig historisch betrachtet vermutlich nicht einmal richtig - denn dass Menschen sich voreinander bemühen, ein gewisses Bild von sich selbst zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, ist vermutlich schon so alt wie der Mensch selbst. Nur gibt’s heute eben ein besonders praktisches Tool dazu, quasi eine virtuelle Version von einem selbst, die sich besser kontrollieren lässt.

Aber ist das wirklich alles so schlimm?

Es ist schwierig, seine Rolle zu finden in dieser komischen Zeit zwischen Kind- und Erwachsen-Sein – dass andere einem da oft als Orientierungshilfe und Inspiration dienen können, ist also durchaus legitim. Und sich selbst online so gestalten zu können, wie man gerne gesehen werden möchte oder tatsächlich ist, kann in all dem Chaos rundherum sehr praktisch sein.

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Diese zwei Versionen von uns, die wird es immerhin immer geben: Die, die wir sind, und die, die wir sein wollen. Virtuell verschwimmen diese beiden Personen zu einem idealisierten, perfekten Abbild. Sofern einem das bewusst ist, hat diese soziale Entwicklung also sogar durchaus positive Aspekte, vielen kann die so greifbare, gewollte Version ihrer Person als Hilfestellung zur tatsächlichen Zielerreichung dienen.

Medienkritik gibt’s schon seit der Erfindung des Buchdrucks, und anstatt immer nur die negativen Aspekte herauszukehren, sollten also auch auf die positiven verwiesen werden.

Trotzdem sollte man sich zwischen all den optimal belichteten Selfies und der hippen Acai-Food-Bowl mit Chia-Samen und Agavendicksaft hin und wieder daran erinnern, dass diese Online-Gestalt nicht so wichtig ist, und, vor allem, nicht real. Dass das nur einen kleinen Teil einnimmt und Taten immer mehr zählen werden als die Bilder davon.

Und dass auf „Gefällt mir drücken“ in diesem Fall nicht zählt.

 

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 26.04.2024 bearbeitet.

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